Jahrhundertelang ist das Wasser der Wupper in Elberfeld und Barmen, dem heutigen Wuppertal, immer wieder über die Ufer getreten. Als die Doppelstadt in der ersten Phase der Frühindustrialisierung zur völlig überbevölkerten Weltstadt wurde, entstanden Favela-artige Siedlungen nahe am Flusslauf, die regelmäßig überflutet wurden.
Friedrich Engels hat das als Schüler in Barmen wahrgenommen. Er erkannte dieses grausame regelmäßige Absaufenlassen als Symptom für die Doppelzüngigkeit seiner pietistischen Sippe – und wurde darüber Sozialist.
Für das Tal der Wupper wurde schließlich die Konsequenz gezogen, flussaufwärts, im Wupper-Einzugsgebiet, ein System von Talsperren zu errichten. Für ein gutes Jahrhundert war Wuppertal dadurch vor katastrophalen Flutereignissen wie jetzt im Ahrtal im Wesentlichen geschützt.
Diese sorgenarme Zeit ging in den späten Abendstunden des 14. Juli 2021 zu Ende.
Um 21 Uhr teilte der Talsperrenbetreiber der Stadt Wuppertal mit, dass alsbald die Wupper-Talsperre überlaufen werde. Mit Lautsprecherwagen und Sirenen versuchte die Stadt die Anwohner zu warnen. Im Stadtteil Beyenburg läuteten auch die Kirchenglocken Sturm. Um 23 Uhr war es so weit: Die Talsperre lief über.
Am nächsten Tag teilte der Verantwortliche, der Wupperverband, achselzuckend mit:
"In der Spitze wurden aus der Wupper-Talsperre über 185 Kubikmeter Wasser pro Sekunde abgegeben. Da die Talsperre keinen Freiraum mehr hatte, wurde so viel Wasser abgegeben, wie sie von oberhalb gelegenen Gewässern zugeführt bekam. Diese Menge wäre auch ohne die Talsperre in der Wupper geflossen."
Das heißt, der ursprüngliche Zustand – ohne Talsperren – war wiederhergestellt: Zufluss gleich Abfluss. Ein Management der Fluten gab es nicht mehr. Der Talsperrenbetreiber musste kapitulieren. Er signalisierte jedoch zugleich: Uns trifft keine Schuld, wir konnten nicht anders.
Mit einem Hochwasserfrühwarnsystem hätte man eine solche Konstellation übrigens nicht in den Griff bekommen. Das Hochwasser hier war nämlich nicht natürlich, sondern menschengemacht. Eine rechtzeitige Warnung vor den Talsperrenmanagement-Entscheidungen des Betreibers hätte es geben müssen. Das hätte geholfen.
Der Schatz der Talsperrenbetreiber
Talsperren dienen nicht allein dem Hochwasserschutz, sie haben mehrere Funktionen. Etliche Talsperren sind zugleich Trinkwasser-Reservoire, andere dienen auch der Naherholung. Folglich kommt es zu Zielkonflikten.
Die Wupper-Talsperre hat – so die rechtliche Vorgabe – neben dem Flutschutz ein zweites Ziel: Sie soll in der regenreichen Zeit genügend Wasser speichern, damit in der als ausnahmslos regenarm angenommenen Sommerzeit immer noch so viel Wasser abwärts gelassen werden kann, dass bestimmte Biotope im Flusslauf keinen Schaden nehmen.
Diese Zweitaufgabe ist in eine konkrete Zahl gefasst: Der Talsperrenbetreiber hat eine Mindestwasserführung von 3,5 Kubikmetern pro Sekunde zu gewährleisten. Das am Ende der Wintersaison gespeicherte Wasser ist also ein Schatz für den Sommer, viel Geld wert.
Jochen Luhmann
studierte Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie und promovierte in Gebäudeenergieökonomie. Er war zehn Jahre als Chefökonom eines Ingenieurunternehmens und 20 Jahre am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie tätig. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Gaia und Vorstandsmitglied der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.
Diese Maßgabe hält sich noch an die alten Bauernregeln, die aus jahrhundertelanger Erfahrung begründet sind. Man unterstellt immer noch, was vormals galt, als der Klimawandel noch nicht das Wettergeschehen umgewälzt hatte: Nur im Herbst und Winter gebe es niederschlagsreiche Perioden. Mit Ernst Jandl gesprochen: Werch ein Illtum.
Atypischerweise sagte Anfang Juli der Deutsche Wetterdienst (DWD) für eine Zeit mitten im Sommer großflächige und anhaltende Extremniederschläge voraus.
Wobei: So atypisch war dieses Wettergeschehen nicht. 2002 hatten wir, ebenfalls im Sommer, im Erzgebirge eine ähnliche Wetterlage – die Weißeritz-Talsperre lief damals über, das Flüsschen nahm sein altes Bett wieder ein und setzte unter anderem den Dresdner Zwinger unter Wasser.
Unverblümte Krisenkommunikation
Je näher der 14. Juli rückte, desto genauer wurden die DWD-Prognosen der regional zu erwartenden Niederschlagsmengen. Der Wupperverband teilte im Nachhinein mit:
"Vor dem Hochwasserereignis hat der Wupperverband die vom DWD eingegangenen Prognosen in sein Handeln einbezogen.
Diese Prognosen waren am Wochenende und zum Wochenbeginn am 12.7. zunächst noch mit deutlichen Unsicherheiten behaftet bezüglich der Regenmengen und bezüglich der genauen Lage des Regengebiets.
Am Dienstag, 13.7., lautete die Prognose, es könnten lokal in einem Streifen vom östlichen Münsterland bis in die Eifel Regenmengen von über 100 Litern pro Quadratmeter in 24 Stunden möglich sein.
Tatsächlich brachte der Starkregen am 14.7. flächendeckend Regenmengen zwischen 120 und 160 Litern pro Quadratmeter. Dies betraf weitgehend das ganze 813 Quadratkilometer große Einzugsgebiet der Wupper.
In dieser Dimension und flächendeckenden Ausbreitung gab es zu keinem Zeitpunkt eine seriöse Vorhersage für das Wuppergebiet.
Anhand der Prognosen vom Sonntag, 11.7., und Montag, 12.7., hatte der Wupperverband ab Montag, 12.7., begonnen, vermehrt Wasser aus den Brauchwassertalsperren oberhalb der Wupper-Talsperre und auch aus dieser selbst abzugeben, um Freiraum zu schaffen."
Der Talsperrenbetreiber gibt hier zu erkennen, dass er erst dann Vorsorge zu treiben gewillt ist, wenn die regionale Niederschlagsprognose so weit verbessert wurde, dass das betroffene Gebiet Tage voraus präzise bestimmt werden kann.
Das zu schaffen dürfte die Meteorologie noch mindestens Jahrzehnte beschäftigen – auf absehbare Zeit ist das Erreichen des vom Wupperverband gesetzten Auslösekriteriums ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Talsperrenbetreiber signalisiert also am Tag nach dem Desaster: Das nächste Mal werden wir es wieder so machen. Eine so unverblümte Konflikt-Kommunikation erlebt man selten.
Entscheidung gegen das Vorsorgeprinzip
Unabhängig davon beschreiben diese Sätze deutlich das reale Dilemma, vor dem der Talsperrenbetreiber stand und immer wieder steht. Er wird vor eine asymmetrische Entscheidung gestellt:
Soll ich den Spatz in der Hand, den millionenwerten Wasservorrat, wirklich aus der Hand geben für die Taube auf dem Dach, dass die örtlich unpräzise angekündigten Regenmengen tatsächlich im Wupperverbandsgebiet herunterkommen? Was ist, wenn ich das Wasser ablasse – und die Regenmengen gehen beim Nachbarverband nieder? Dann war meine Vorsorge für die Katz.
Der Wupperverband beschrieb sein Dilemma so:
"Um diese enormen Regenmengen zu puffern, hätte der Wupperverband die Wupper-Talsperre in kürzester Zeit um mehr als die Hälfte des Stauinhalts entleeren müssen. Um eine solche gewaltige Menge ohne schädliche Wirkung für die Unterlieger in Wuppertal abzuführen, reichte die Zeit von Montag an nicht aus."
In der Tat, zu diesem Zeitpunkt gab es für den Betreiber keine andere Option mehr. Da war das Kind schon in den Brunnen gefallen, es war nur noch nicht unten aufgeschlagen. Andere Entscheidungsmöglichkeiten hatten lediglich einige Tage zuvor noch offengestanden. Da aber war entschieden worden, dem Kind zu erlauben, in einem Hochrisiko-Bereich, am Brunnenrand, zu spielen.
Das nordrhein-westfälische Umweltministerium, dem die Aufsicht über die Talsperrenbetreiber obliegt, hatte diese Gefahr wahrgenommen – und war in den Tagen vor der Sturzflut an die "Eltern", die Talsperrenbetreiber, auch herangetreten. Es hatte gefragt: Ist das nicht etwas arg riskant, was ihr da an Füllstand zulasst, knapp unter der Oberkante? Offenbar setzte sich der Wupperverband mit seiner strategischen Fehlentscheidung aber in diesen Gesprächen mit dem Umweltministerium durch.
Erst als der Wupperverband sich dagegen entschied, dem Vorsorgeprinzip zu folgen und rechtzeitig genug Wasser aus dem Talsperrenverbund im Wupper-Einzugsgebiet abzulassen, entschied er sich implizit für die "Lösung": den eigenen Schaden minimieren, im Ernstfall den Schaden bei den Talsperren-Unterliegern herbeiführen. So geschah es dann.
Aus der Flut von 2002 nicht gelernt
Nach der Hochwasserkatastrophe im Erzgebirge und an der Elbe im Sommer 2002 wurde beschlossen, Lehren zu ziehen. Es wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet, unter Leitung des früheren Bundeswehrgenerals Hans-Peter von Kirchbach.
Die Kommission lieferte auch alsbald ihren Bericht ab. Der Aspekt "Talsperren-Überlauf wegen ungeklärter Zielkonflikte im Talsperren-Management" wird darin aber nicht behandelt.
So wurde eine Chance vertan "querzulernen". Die übrigen Talsperrenbetreiber in Deutschland machten die Augen zu und zogen keine Schlüsse. Inzwischen ist das Weißeritz-Unglück weitgehend vergessen – entsprechend glaubwürdig ist, dass die gegenwärtige Generation von Verantwortlichen "völlig überrascht" vom jetzigen Geschehen in Westdeutschland ist.
In den Medien werden gerne Anwohner wiedergegeben mit Sätzen wie: "Das habe ich hier in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt." Richtig, hier gab es das noch nie. Es ist eben nur vor ein paar Jahren in Sachsen passiert.
Ob diesmal die richtigen Lehren gezogen werden, wird daran zu messen sein, ob die Chance zum regionalen "Querlernen" ergriffen wird. Das zu beurteilen ist nicht schwer. Man wird es daran erkennen, ob die Umweltministerkonferenz und die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser, zwei bundesweit agierende Fachgremien, das Thema "Hochwasserschutz durch Revision der Grundlagen des Talsperrenmanagements" an sich ziehen werden.
Geschieht das nicht, werden die Amtsträger der nächsten Generation in den 2030er Jahren auch wieder "völlig überrascht" sein.