Die Hälfte der Weltbevölkerung darf wählen, aber Klimapolitik könnte wieder nur eine Nebenrolle spielen. (Bild: Wiki lmages/​Pixabay)

In über 70 Ländern dürfen dieses Jahr insgesamt mehr als vier Milliarden Menschen ihren Wahlzettel abgeben. Das entspricht etwa der Hälfte der Weltbevölkerung und macht 2024 zum größten Wahljahr der Geschichte.

2024 befindet sich mitten im "entscheidenden Jahrzehnt", wie der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Sachstandsbericht betont. Soll heißen: In diesem Jahrzehnt muss die klimagerechte Transformation auf die Gleise gesetzt werden, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens am Leben zu erhalten.

Das vergangene Jahr kratzt mit einer Durchschnittstemperatur von 1,48 Grad Celsius über vorindustriellem Niveau schon empfindlich an der 1,5-Grad-Marke, und Wetterextreme nehmen über den gesamten Globus an Häufigkeit und Intensität zu. Dennoch: Klimapolitik ist in vielen der Wahlkampagnen nach wie vor ein Randthema.

Die beiden verbliebenen republikanischen Präsidentschaftskandidat:innen in den USA, Donald Trump und Nikki Haley, schweigen sich beide über die Klimakrise aus. In Indien und Indonesien – beides Länder, die mit am stärksten unter den Folgen der Erderwärmung leiden – gehen Analyst:innen davon aus, dass die Klimakrise keinen großen Einfluss auf die Wahlen haben wird.

Im Mittelpunkt der Wahlkämpfe stehen also andere Themen – allem voran der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung. Klimapolitisch ambitionierten Parteien wird – ebenso wie in Europa – vorgeworfen, gegen Wohlstand und Wachstum zu stehen.

Längst belegen Studien, dass die Klimakrise mittel- und langfristig eine wesentlich größere Gefahr für den Wohlstand darstellt. Aber in einer Politik auf Sichtweite spielt das keine Rolle.

Ein grundsätzliches Infragestellen der Wachstumslogik gewinnt in den reichen Industrienationen keine Stimmen bei den Wähler:innen – und noch weniger in Ländern des globalen Südens. In Indien leben beispielsweise nach wie vor viele Menschen unterhalb der Armutsgrenze, manche Schätzungen gehen von über 370 Millionen aus.

Klimakrise weit unten auf der Prioritätenliste

Dabei glaubt ein erstaunlich großer Anteil der Menschheit, dass der Klimawandel eine ernstzunehmende Krise für unseren Planeten darstellt. Laut dem aktuellen Trust Barometer der PR-Agentur Edelman sind es 93 Prozent.

Deutlich weniger Menschen befürworten jedoch konkrete Klimaschutzmaßnahmen. So sind zwar über 70 Prozent der US-Amerikaner:innen laut Umfragen überzeugt, dass der Klimawandel sie bereits heute negativ beeinflusst. Aber nicht mal ein Drittel der Befragten hält die Abkehr von fossilen Brennstoffen für sinnvoll.

Diese Diskrepanz ist nicht zuletzt auf populistische und wissenschaftsfeindliche Kampagnen der fossilen Lobby und rechtskonservativer Parteien zurückzuführen.

Der Klimawandel belegt laut dem Meinungsforschungsinstitut Pew Research Center Platz 17 von 21 Themen, denen sich die US-Politik den Befragten zufolge bevorzugt widmen sollte – deutlich hinter Wirtschaftswachstum, niedrigeren Gesundheitskosten und dem Schutz gegen Terrorismus.

Der Klimawandel wird als Gefahr wahrgenommen, aber andere Probleme werden als dringender angesehen und dürften in den Wahlentscheidungen eine größere Rolle spielen. Das zeigt sich auch in Europa.

Expert:innen erwarten einen Rechtsruck bei den anstehenden EU-Parlamentswahlen. Laut einer Analyse des Thinktanks European Council of Foreign Relations (ECFR) wird das Wahlverhalten in den europäischen Ländern von verschiedenen Krisen und ihrer subjektiven Gewichtung bestimmt.

In Dänemark und Frankreich sieht die Bevölkerung demnach die Klimakrise als wichtigstes Thema, in Italien und Portugal ist es die unsichere globale Wirtschaftslage und nur in Deutschland macht sich die Bevölkerung zuvorderst vor der "Migrationskrise" Sorgen.

Das kommende Wahljahr offenbart die Probleme der etablierten parlamentarischen und präsidialen Demokratien, mit der Klimakrise umzugehen. Langfristige, transformative, komplexe politische Inhalte lassen sich politisch schlechter vermarkten als das Versprechen eines kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwungs.

Die einfache Lösung vieler Politiker:innen besteht darin, tiefgreifende Maßnahmen und kontroverse Themen immer auf spätere Legislaturperioden zu verschieben. Dieses den gegenwärtigen Demokratien augenscheinlich inhärente Problem ist zugleich eine Gefahr für die Demokratie.

Veränderung findet nicht nur, aber auch durch Wahlen statt

Die Folgen des Klimawandels – Verschärfung von Trinkwasser- und Nahrungsmittelknappheit, Verlust von Wohn- und Agrarflächen, globale Fluchtbewegungen – stellen Demokratien perspektivisch vor enorme Herausforderungen.

Ein Teil der Klimabewegung hat das Vertrauen in die großen politischen Prozesse schon längst verloren. Wer kann es den Aktivist:innen verübeln? Wissenschaftlich ist seit Jahrzehnten klar, dass der Ausstieg aus fossilen Energien alternativlos ist.

Das wenige Wochen alte Abschlussdokument der letzten Weltklimakonferenz ist dagegen das erste seiner Art, in dem der Übergang von fossilen Energien zu emissionsarmen Technologien empfohlen wird. Von einem Ausstieg ist auch darin nicht die Rede. Die Staaten werden lediglich dazu angehalten, zu einer "Abkehr von fossilen Brennstoffen in Energiesystemen" beizutragen.

Klimaschutz findet nicht nur in Parlamenten und durch Wahlen statt. Nicht nur, aber auch. Ohne progressive Regierungen, die parallel zu Basisbewegungen und anderen transformativen gesellschaftlichen Prozessen agieren, kann die ohnehin träge gesellschaftliche Veränderung der Dringlichkeit der Klimakrise nicht gerecht werden.

Schließlich arbeiten rechte und (wirtschafts-)konservative Kräfte unermüdlich daran, Klimapolitik zu verhindern und beschlossene Maßnahmen rückgängig zu machen.

 

In einer neuen Serie setzt sich Klimareporter° mit den klimapolitischen Implikationen der anstehenden Wahlen auseinander. In den folgenden Beiträgen geben wir einen Ausblick auf die Parlamentswahlen der Europäischen Union, die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten, die Wahlen in Indien und einige weitere.

Welche Tendenzen lassen sich erkennen, welche Rolle spielt das Klima und welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Und letztendlich die Frage: Sind unsere etablierten Politsysteme fähig, mit der Klimakrise umzugehen?

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