Das Jahr 2024 ist das Superwahljahr schlechthin. In über 60 Ländern werden die Bürger zur Urne gerufen, von Algerien über die EU, Indien, Russland und die USA bis Venezuela.
Diese Länder haben unterschiedliche Wahlsysteme, Parteienlandschaften und lokale Themen, die einen Einfluss auf die Wahlergebnisse haben werden. Doch eines haben die Länder gemein: Sie waren in den letzten 15 Jahren mit schweren Krisen konfrontiert – der Polykrise.
Viele dieser Krisen hatten und haben globale Auswirkungen. Das gilt etwa für die Klimakrise, die Coronakrise und die Ukrainekrise mit ihren Folgen für die Energie- und Nahrungsmittelpreise, aber auch schon für die Finanzkrise im Jahr 2008.
Andere Krisen waren auf wenige Länder beschränkt, wie die Eurokrise, die auf die Finanzkrise folgte, und die Migrationskrise im Jahr 2015, als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen.
Bei all den Wahlen werden diese Krisen eine Rolle spielen. Eine Analyse des European Council of Foreign Relations (ECFR), eines Thinktanks in Brüssel, postuliert sogar, dass sich verschiedene Wählergruppen unterscheiden lassen – je nachdem, welche Krise "am stärksten ihren Blick auf die Zukunft beeinflusst hat".
Ein Merkmal der Polykrise sei, "dass in verschiedenen Gesellschaften und für verschiedene soziale Gruppen in der Regel eine Krise eine dominante Rolle gegenüber anderen spielt", erklären die ECFR-Autoren und haben dabei fünf "Krisenstämme" identifiziert: den Klima-, Migrations-, Wirtschafts-, Corona- und Ukraine-Stamm.
Über sie heißt es in der ECFR-Analyse: "Wie alle Stämme haben sie eine gemeinsame Entstehungsgeschichte. Sie haben gemeinsame Sprachformen und Empfindlichkeiten. Sie haben Totems und Anführer, und sie haben interne Brüche."
Deutschland ist die europaweite Ausnahme
Anschließend hat der ECFR eine repräsentative Umfrage in ausgewählten EU-Ländern sowie Großbritannien und der Schweiz durchgeführt, um die Größe der verschiedenen Stämme und deren wahrscheinliches Wahlverhalten zu ermitteln.
Dabei zeigte sich, dass drei der fünf Krisen offenbar wenig wahlrelevant sind. Es sei unwahrscheinlich, dass sich mit Corona, der Wirtschaft oder dem Krieg Russlands gegen die Ukraine viele Wähler mobilisieren lassen, so die Schlussfolgerung des Thinktanks.
Damit bleiben die Klima- und die Migrationskrise als Themen, die die Wahlen dominieren werden. In Anlehnung an die britischen Klimaaktivisten von Extinction Rebellion schreiben die Autoren:
"Der Kampf zwischen den beiden Stämmen entwickelt sich zu einem Aufeinandertreffen zweier 'Aufstände gegen das Aussterben'. Während die Klimaaktivisten die Auslöschung menschlichen und anderen Lebens befürchten, fürchten die Migrationsgegner das Verschwinden ihrer Nation und ihrer kulturellen Identität."
Europaweit gesehen, ist der Klimastamm der größere. Für 19 Prozent der Europäer ist das Klima und für zwölf Prozent ist Migration die wichtigste Krise. Die Werte unterscheiden sich aber zwischen den Staaten. In Dänemark und Frankreich hat der Klimastamm besonders viele Mitglieder mit 29 respektive 27 Prozent der Wählerschaft.
Der Migrationsstamm hat in den meisten Ländern einen Anteil zwischen fünf und 15 Prozent der Wählerschaft – mit einer signifikanten Ausnahme: In Deutschland ist Migration für 31 Prozent das wichtigste Thema. Damit steht Deutschland europaweit alleine da. In keinem anderen Land ist der Migrationsstamm der zahlreichste.
Und das dürfte Folgen für die diesjährigen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie die Wahl zum Europaparlament haben. Volle 45 Prozent der deutschen Mitglieder des Migrationsstamms planen, die AfD zu wählen.
Inwiefern die Unterscheidung von "Krisenstämmen" auch bei den Wahlen außerhalb Europas eine Rolle spielt, hat die Studie nicht untersucht. Zumindest bei den US-Präsidentschaftswahlen im November könnten die verschiedenen Stämme aber wichtig werden.
Während 78 Prozent der Anhänger der Demokraten die Klimaerwärmung als "große Gefahr" sehen, sind nur 23 Prozent der Anhänger der Republikaner dieser Meinung, wie eine Umfrage des US-Thinktanks Pew vom letzten Jahr zeigt.
Umgekehrt wollen 73 Prozent der Republikaner die Immigration reduzieren und nur 18 Prozent der Demokraten, gemäß einer Umfrage des US-Instituts Gallup. Zumindest in den USA gibt es also auch den Klima- und den Migrationsstamm.