In seinem Buch "Kipppunkte" beschreibt der Bewegungsstratege und Aktivist Manuel Grebenjak die Klimabewegung als ein "Ökosystem". In einem Ökosystem stehen verschiedene Pflanzen- und Tierarten miteinander und mit der sie umgebenden Umwelt in komplexen Wechselwirkungen.
Statt eines Netzwerks aus Lebewesen und Biotopen ist eine soziale Bewegung ein Netzwerk aus verschiedenen Gruppen, die sich untereinander und mit der Gesellschaft in einem ständigen Austausch befinden.
Während die Vielfalt der Bewegung gerne als ihre Stärke dargestellt wird, sind die strategischen wie taktischen Differenzen auch Reibungspunkte zwischen den Gruppen. Fridays for Future setzt auf anschlussfähige Großdemonstrationen und auf Bündnisse mit großen gesellschaftlichen Gruppen wie Kirchen und Gewerkschaften. Die "Letzte Generation" hingegen will mit disruptiven Aktionen Aufmerksamkeit erzeugen.
Nach der Theorie vom "Radical Flank Effect" kann sich der radikale Flügel einer sozialen Bewegung sowohl positiv als auch negativ auf moderatere Gruppen auswirken. Straßenblockaden oder Sachbeschädigung haben einen geringeren gesellschaftlichen Rückhalt, erzeugen aber ein größeres Medienecho.
Im Idealfall führt das dazu, dass Aktionen und Inhalte gemäßigter Gruppen zugänglicher wirken, zuvor tabuisierte Fragen diskutierbar werden und schließlich die Unterstützung für moderate Gruppen wächst. Umgekehrt kann die radikale Flanke einer Bewegung aber auch in den Augen der Mehrheitsgesellschaft das Anliegen generell in Verruf bringen.
Die Theorie wurde bereits in den 1970er Jahren etabliert, kann sich aber – gerade mit Blick auf die Klimabewegung – kaum auf Empirie stützen.
Drei Prozentpunkte mehr Unterstützung für moderate Gruppen
Mit dieser Leerstelle haben sich Sozialwissenschaftler:innen am britischen Social Change Lab in einer jüngst veröffentlichten Studie beschäftigt. Dazu befragten sie 1.415 zufällig ausgewählte, unbeteiligte Personen kurz vor und nach einer mehrtägigen Blockade der Londoner Stadtautobahn M25.
Durchgeführt wurde die Blockade von der Gruppe Just Stop Oil, dem britischen Pendant zur Letzten Generation.
Die Auswertung der im Fachjournal Nature Sustainability erschienenen Untersuchung ergab, dass die Unterstützung für gemäßigtere Gruppen der Klimabewegung – in dem Fall für Friends of the Earth, ein Bündnis von Umweltverbänden – nach der Protestaktion höher ausfiel.
"Der Anteil der Personen, die angaben, dass sie Friends of the Earth zumindest etwas unterstützen, stieg von 50,4 Prozent der britischen Bevölkerung auf 53,7 Prozent, ein Anstieg um 3,3 Prozentpunkte", schreiben die Autor:innen.
Die Studie zeigte außerdem, dass bei den Befragten, denen Just Stop Oil und seine Aktionen vertrauter waren, auch die Unterstützung für Friends of the Earth stärker zunahm. Daraus schloss die Forschungsgruppe um den Sozialwissenschaftler Markus Ostarek, dass der 3,3-Punkte-Unterschied tatsächlich in der Aktion und nicht irgendwelchen anderen Faktoren begründet ist.
Über den zugrunde liegenden psychologischen Zusammenhang schreiben die Autor:innen, dass gemäßigte Gruppen im Kontrast zu disruptiven Gruppen "vernünftiger erscheinen". Und weil "Menschen sich in der Regel selbst für vernünftig halten, neigen sie dazu, sich mit anderen zu identifizieren, die ähnlich zu sein scheinen".
Zu mehr Unterstützung für klimapolitische Maßnahmen im Allgemeinen führte die Aktion laut der Umfrage allerdings nicht.
Wie reproduzierbar dieses Ergebnis ist, bleibt selbstverständlich offen. Auch in der Studie selbst werden zahlreiche Forschungsfragen für zukünftige Studien aufgeworfen. Wie unterscheiden sich die Reaktionen verschiedener Personengruppen? Gibt es Unterschiede zwischen Ländern? Welche Aktionen führen zu einem positiven Radical-Flank-Effect und welche nicht?
Es geht um gesellschaftliche Macht
Die Gruppe Letzte Generation muss sich immer wieder den Vorwurf anhören, mit ihren Aktionen der Klimabewegung zu schaden. In Umfragen scheint diese Kritik auch Bestätigung zu finden.
2021 gaben noch 68 Prozent in einer Umfrage der gemeinnützigen Organisation More in Common an, sie würden die Klimabewegung grundsätzlich unterstützen. Zwei Jahre später hatte sich die Unterstützung halbiert. Dazwischen lagen spektakuläre Aktionen der oft abfällig als "Klimakleber" titulierten Gruppe.
Natürlich wird es der Komplexität gesellschaftlicher Prozesse nicht gerecht, diese Rückwärtsrolle allein auf ein paar Straßenblockaden zu schieben. Der Ukraine-Krieg, gestiegene Energiepreise und nicht zuletzt groß angelegte konservative und rechtspopulistische Kampagnen haben ihren Teil getan.
Zudem ist nicht allein die Aktionsform entscheidend. Nachvollziehbare Forderungen, starke Symbole und Kristallisationspunkte sind mindestens ebenso wichtig für die Wirkmächtigkeit einer Bewegung.
Letztlich ist das Ziel einer Bewegung, gesellschaftliche Macht aufzubauen, um eine Veränderung, etwa eine klimagerechte Transformation, zu ermöglichen. Das kann auf vielerlei Weise passieren: über etablierte Institutionen wie Gerichte, den Aufbau von Alternativen – Energiegenossenschaften, solidarische Landwirtschaft –, über Basisorganisierung und Verknüpfung verschiedener Kämpfe. Oder eben über Massendemonstrationen und disruptive Protestformen.
Damit die Vielfalt einer Bewegung zu ihrer Stärke wird, muss es eine gemeinsame Strategie geben. Nur dann können die einzelnen Fraktionen aufeinander aufbauen.
In der Realität lief es zuletzt häufig anders. Während die Letzte Generation möglicherweise zu lange an Straßenblockaden, verknüpft mit sehr gemäßigten Forderungen, festhielt, hat Fridays for Future den dadurch entstandenen Diskursraum nicht genutzt.
Stattdessen hält auch Fridays for Future an den bisherigen Aktionsformen und Argumenten fest. Oder wie es die Journalistin Sara Schurmann mit Blick auf Fridays for Future ausdrückte: "In den vergangenen Jahren wurde der Protest so weit politisch und gesellschaftlich umarmt, dass er kaum noch Reaktionen auslöst."
Die Studienautor:innen setzen ihre Hoffnung angesichts der Untätigkeit etablierter Politiksysteme auf sogenannte soziale Kipppunkte. Das sind Schwellen, ab denen gesellschaftlicher Wandel schnell und selbstverstärkend passiert.
Trotz aller Unsicherheiten sehen die Forscher:innen in radikalem Protest eine mögliche Schlüsselrolle. "Die aktuelle Welle radikaler Klimaproteste mit der davon ausgelösten öffentlichen Debatte und den positiven Auswirkungen auf gemäßigte Klimagruppen könnte ein Weg sein, um eine Kipppunkt-Dynamik auszulösen."