Neue Fernstraßen zerschneiden die Landschaft in immer kleinere Stückchen. (Bild: Robert Grahn/​Euroluftbild/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Holzapfel, in Deutschland wird der Verkehrswegebau forciert. Der Bundestag hat beschlossen, dass auch der Neu- und Ausbau von Autobahnen und anderer Straßen schneller vonstattengehen soll.

Sie kritisieren das. Jeder weitere Meter Straße bedeute eine erhebliche Gefährdung der Natur – und letztlich der Biosphäre, warnen Sie. Harter Tobak ...

Helmut Holzapfel: Aber so ist es. Für Straßen werden Naturflächen versiegelt und dadurch entwertet. Die Folge ist ein luftdichter Abschluss des Bodens, wodurch das Leben darunter erstickt wird. Zudem verändert sich das Kleinklima, Asphaltflächen heizen sich stärker auf, und es wird weniger Wasser im Boden gespeichert.

Eine aktuelle, als Buch veröffentlichte Studie des britischen Naturwissenschaftlers und renommierten Vogelexperten Paul Donald zeigt, dass Straßen und die darauf fahrenden Autos einen erheblichen, bisher völlig unterschätzten Beitrag zur Zerstörung von Biotopen und der Ausrottung von Tierarten leisten. Dabei erhalten diese Tiere unsere Landschaft und helfen, unsere Lebensgrundlagen zu bewahren.

Was heißt das konkret?

Donald hat es für England bilanziert, wo die Straßendichte vergleichbar mit der in Deutschland ist. Dort werden laut den von ihm ausgewerteten Untersuchungen pro Jahr etwa 30 Millionen Vögel, 200.000 bis 300.000 Igel, 100.000 Füchse, 74.000 Rehe und Hirsche sowie 50.00 Dachse durch Automobile getötet.

Er schätzt aufgrund weiterer internationaler Quellen, dass in Europa jährlich insgesamt 200 Millionen Vögel auf Straßen sterben. Zahlen aus Schweden, wo ebenfalls genauere Werte vorliegen, bestätigen diese Schätzungen. Donald nennt das "Roadkill".

Noch beeindruckender sind wohl die Verluste bei Insekten und Schmetterlingen, obwohl es hierzu erst wenige Studien gibt. Im US-Bundesstaat Illinois ergab eine Untersuchung zum Beispiel, dass pro Kilometer Straße dort jeden Tag bis zu 35 Libellen sterben.

Der Effekt auf Schmetterlinge ist ebenfalls groß, die Schätzung ergab 20 Millionen getötete Schmetterlinge pro Woche. Beim amerikanischen Monarchfalter sei dadurch sogar die Art bedroht. Zu toten Insekten, Spinnen, Schlangen und Kleintieren gibt es bisher nur wenige Daten, die jedoch ebenfalls auf enorme Verluste hinweisen.

Das heißt, die Debatte wird einseitig geführt, wenn der mögliche Tod von Vögeln durch Windräder Proteste auslöst, dies bei Straßen aber kaum Beachtung findet?

In der Tat. Die Gutachten und Kosten-Nutzen-Analysen, die den Plänen zu den Straßenbauten des Bundes zugrunde liegen, rechnen diese weiträumigen Konsequenzen nicht ein.

Bild: ZMK

Helmut Holzapfel

leitet das Zentrum für Mobilitäts­kultur in Kassel. Der Bau­ingenieur, Stadt­planer und Verkehrs­wissen­schaftler war bis 2015 Professor am Institut für Verkehrs­wesen der Uni Kassel. Er ist Buchautor und berät unter anderem Gewerk­schaften sowie Umwelt­verbände.

Zwar müssen Straßenplanungen heute mit den Lebensräumen von Tieren direkt an der Strecke und im Umfeld abgestimmt und Querungen für große Säugetiere vorgesehen werden. Auch schützen Umweltvorschriften seltene Arten, etwa in der Presse oft erwähnte seltene Käfer, und das kann eine Umplanung der Straße oder eine Umsiedlung der Tiere bewirken. An den enormen Verlusten der Tierbestände insgesamt ändert das allerdings kaum etwas.

Zudem verstärkt ein Rückgang der Tierwelt Klimaschäden. Insekten und Bienen sind eine wichtige Basis für die Pflanzenwelt, deren CO2-Speicherfähigkeit immens wichtig ist. Ich halte die Klimaschäden durch Straßenbau für ein wesentlicheres Problem als die Schäden durch die Autotechnik, wenn man neben Versiegelung und Flächenverbrauch die negativen Einflüsse auf die Biodiversität mitberücksichtigt.

Bei den Ausbauplänen des Bundes geht es allerdings schwerpunktmäßig um die Verbreiterung bestehender Autobahntrassen. Da sind die Eingriffe weniger gravierend, oder?

Tatsächlich gibt es weiterhin viele Kilometer Neubaupläne, doch auch Verbreiterungen wirken sich auf die Pflanzen- und Tierwelt aus. Tunnel oder Brücken für Tiere werden, wie die Erfahrung zeigt, nur wenig angenommen, und direkte Querungen der Straßen durch Tiere verlaufen meist tödlich.

Die Rückzugsgebiete zwischen den Autobahnschneisen werden kleiner, es kommt zu einer "Verinselung" des Landes. Für die Biodiversität ist das ein Desaster. In den Fragmenten zwischen den Straßen findet eine genetische Verarmung der Arten statt, etwa bei Schlangen bis hin zum Aussterben durch fehlende Vermehrung. Auch Tierarten, die gerne wandern, wie bei uns die Wildkatze, sind stark gefährdet.

Zudem wird die Wirkung der Bodenversiegelung durch immer breitere Trassen verstärkt. Und einen echten "Ausgleich", wie er oft in Planfeststellungsverfahren suggeriert wird, gibt es für die Flächenverluste nicht. Asphaltierte Fläche ist verloren für Tiere, Pflanzen, Temperaturausgleich und Wasserhaushalt. Zu den Folgen gehören mehr Überschwemmungen.

Was sollte also passieren?

Der renommierte Umweltwissenschaftler Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, hat unlängst bei einem Vortrag auch aus Klimagründen eine sofortige "positive Naturbilanz" gefordert. Das bedeutet, die Abnahme der Biodiversität zu stoppen und sie ab 2030 sogar auf null zu bringen.

Das heißt: Angesichts des sehr großen Verlusts von Biodiversität durch Verkehrswege darf eigentlich kein Meter Naturraum mehr für neue Straßen zerstört werden.

 

Aber die Autoflotte wächst in Deutschland weiter, und die zusätzlichen Pkw und Lkw brauchen Platz zum Fahren ...

Das wird wirklich nur noch von Außenseitern unter den Verkehrswissenschaftlern angenommen, die aber einflussreich sind, weil Verkehrsminister Volker Wissing sich von ihnen beraten lässt.

Selbst in der Autoindustrie weiß man, dass durch die zunehmende Elektrifizierung und Automatisierung der Fahrzeuge schon in absehbarer Zeit der Verkehrsfluss gleichmäßiger wird und dass sich so die Kapazität der bestehenden Straßen deutlich erhöht. Ein generelles Tempolimit auf Autobahnen könnte sofort einen ähnlichen Effekt haben.

Derzeit wird, weil in den Ministerien und Straßenbaubehörden immer noch das alte Denken vorherrscht, eine große Zahl völlig sinnloser Projekte geplant, die enorme und in der Öffentlichkeit kaum bekannte Schäden in der Natur erzeugen. Wenn unsere Enkel noch einen Kuckuck hören wollen, muss Schluss mit dem weiteren "Roadkill" gemacht werden.

Anzeige