Klimareporter°: Frau Riewenherm, Deutschland hat wie andere Länder die Verpflichtung aus dem Montrealer Weltnaturschutz-Abkommen zu erfüllen und 30 Prozent der Landesfläche unter Schutz zu stellen. Manche meinen, die Quote sei eigentlich schon erfüllt, sofern die Landschaftsschutzgebiete mitgerechnet werden. Wie sehen Sie das?

Sabine Riewenherm: Es ist richtig: Deutschland hat sich klar zum 30‑Prozent-Schutzgebietsziel bis 2030 bekannt. Analog zur globalen gibt es die gleiche Verpflichtung für Europa, sie ist Teil der EU-Biodiversitätsstrategie. Diese Strategie differenziert beim 30‑Prozent-Ziel und fordert, dass zehn Prozent der jeweiligen Landesfläche strenge Schutzgebiete sein müssen.

Schon bis Ende dieses Jahres müssen die Länder der EU melden, welche ihrer Schutzgebiete bereits jetzt dem 30‑Prozent-Ziel zugeordnet werden können. Das soll in einem zweistufigen Verfahren geschehen.

In einer ersten Tranche hat Deutschland der EU in Abstimmung mit den Bundesländern alle Natura-2000-Gebiete, alle Nationalparke und Naturschutzgebiete, alle Kern- und Pflegezonen der Biosphärenreservate sowie alle nationalen Naturmonumente gemeldet.

Mit den Bundesländern diskutieren wir gerade, welche weiteren Gebiete in einem zweiten Schritt gemeldet werden sollen oder können. Das können dann auch Landschaftsschutzgebiete sein, sofern sie die EU-Kriterien erfüllen, oder auch Gebiete, die bis 2030 neu ausgewiesen werden sollen.

Der Koalitionsausschuss der Ampel-Regierung hat kürzlich einen Vorschlag aus der Umweltbewegung aufgegriffen: Für den naturschützerischen Ausgleich bei Infrastrukturprojekten sollen künftig auch Geldleistungen zugelassen sein. Die sollen dann in einen Fonds fließen, mit dem der Bund Flächen für Naturerhalt und Biotopverbund sichert. Was halten Sie von dem Konzept?

Wie gesagt, internationale Verpflichtungen im Naturschutz wie das Montrealer 30‑Prozent-Ziel gelten auch für Deutschland. Das heißt am Ende auch: Wir brauchen für den Naturschutz mehr Fläche, und zwar vor allem Fläche, mit der wir Biotope vernetzen können.

Porträtaufnahme von Sabine Riewenherm.
Bild: Feisel Grombali

Sabine Riewenherm

ist Präsidentin des Bundes­amtes für Natur­schutz (BfN). Die studierte Biologin war Redakteurin beim Gen-ethischen Informations­dienst und dann bis 2011 Fach­referentin für die Grünen im Bundestag. Bis zu ihrer Ernennung 2021 war sie für das rhein­land-pfälzische Umwelt­ministerium tätig.

Den Ansatz, über eine neue gesetzliche Regelung mehr Flächen für den Naturschutz zu sichern, halte ich für sinnvoll. Genau dieser Herausforderung nimmt sich jetzt das von Bundesumweltministerin Steffi Lemke geplante Natur-Flächen-Gesetz an. Dazu sollen bis zum Sommer erste Eckpunkte vorliegen.

Unabhängig davon bleibt die bisherige sogenannte Eingriffsregelung ein bewährtes Kernelement des Naturschutzes. Sie gilt seit 1976, wurde zuletzt 2010 modernisiert und stellt ein flexibles und für den Naturschutz unglaublich wichtiges Instrument dar. Damit kann auf verschiedene Konstellationen des Eingriffsausgleichs passgenau reagiert werden.

Das wird vielfach schon in großen, naturschutzfachlich sinnvollen Zusammenhängen realisiert. Das zeigen besonders die in einigen Bundesländern – etwa in Brandenburg und Schleswig-Holstein – erfolgreich tätigen Flächenagenturen. Eine ökologisch wirksame, großräumige Kompensation von Eingriffen in die Natur ist insofern bereits bundesweit etablierte und erfolgreiche Praxis.

Der größte Feind der Natur sei die Klimakrise, argumentieren unter anderem Erneuerbaren-Verbände, wenn sich Naturschützer über Windräder im Wald, Ödland unter Solarparks oder Artensterben in vermaisten Landschaften beschweren und auch dagegen klagen. Wie oft haben Sie das Klima-Argument schon gehört?

Diese Argumente kennen wir natürlich. Ganz so schwarz-weiß ist das Bild allerdings nicht.

Es stimmt, dass Klimaänderungen sich bereits heute weitreichend auf Pflanzen, Tiere und deren Lebensräume und deren Verbreitung auswirken – denken wir nur an die aufgrund von Trockenheit und den folgenden Kalamitäten unter Druck geratenen Wälder.

Der Klimakrise muss mit großer Entschlossenheit begegnet werden. Das steht außer Zweifel. Entsprechend wichtig sind Maßnahmen wie der Ausbau der erneuerbaren Energien.

Aus Sicht des Naturschutzes gibt es gegen den Klimawandel weitere zielführende Maßnahmen wie die Renaturierung von natürlichen CO2-Senken wie Mooren oder von Feuchtgebieten.

Diese binden nicht nur Treibhausgas, sondern wirken sich auch positiv auf die Biodiversität aus. Genau dieses Feld beackert das neue Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz. Für das Programm fungiert das Bundesamt für Naturschutz als "Regiestelle".

Die Debatte zwischen Erneuerbaren-Verfechtern und Naturschützern krankt auch daran, dass es noch immer wenig zuverlässige Daten darüber gibt, wie stark beispielsweise die Windkraft Greifvögel oder Fledermäuse gefährdet. Das lässt viel Raum für Pro und Kontra. Wie stark ist der Bestand wildlebender Arten wirklich bedroht?

Um die Gefährdung wildlebender Arten einzuschätzen, stellt die Verfügbarkeit von Daten noch immer eine Herausforderung dar. Da geht es beileibe nicht nur um die Gefährdung durch Kollisionen mit Windkraft, sondern auch durch andere Todesursachen wie Verkehr, Vogelschlag an Glasscheiben oder bei Greifvögeln durch Giftköder.

Zu diesem Problem hat das Bundesamt für Naturschutz einen Ratgeber "Illegale Greifvogelverfolgung" veröffentlicht, gemeinsam mit dem Bundesumweltministerium und dem Komitee gegen den Vogelmord.

Oft werden beim Artenschutz generelle Aussagen erwartet, wie gefährdet einzelne Arten durch bestimmte Infrastrukturen sind. Aber das ist leider nicht möglich, da die Gefährdung beispielsweise von Vögeln oder Fledermäusen artspezifisch ist und von zahlreichen weiteren Parametern abhängt.

 

Um die Datenlage zu verbessern, wäre es sehr hilfreich, wenn zum Beispiel Betreiber von Windenergieanlagen uns ihre wissenschaftlichen Untersuchungsdaten zur Verfügung stellen würden, die sie im Rahmen der Genehmigungsprozesse erhoben haben.

Da besteht leider noch große Zurückhaltung, diese Daten an uns weiterzugeben. Sie sind aber wichtig, um die Gefährdung der Bestände wildlebender Arten beurteilen zu können.

Natürlich gibt es auch jetzt schon wissenschaftliche Untersuchungen dazu. So erfassen die Betreiber von Offshore-Windenergie im Rahmen des Betriebsmonitorings die Auswirkungen auf Seevögel. Auch unser Bundesamt nimmt dazu Erfassungen vor. Wir sind in der Nord- und Ostsee jenseits der Küstenmeere, also in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, die dafür zuständige Naturschutzbehörde.

Zurück zur Flächenfrage. Nutzungskonzepte für wertvolle Flächen wie Agri- und Moor-Photovoltaik kommen über Pilotprojekte nicht hinaus. Solarfirmen wie Bauern gleichermaßen wollen und können am Ende nicht auf die gewohnten Erträge verzichten. Was kann getan werden, um die Doppelnutzung zu verbessern?

Beim Ausbau von Photovoltaik-Freiflächen haben Naturschutz und Landwirtschaft tatsächlich ein gemeinsames Problem: Die Flächen werden der landwirtschaftlichen Nutzung oder dem Naturschutz entzogen.

Es gibt aber gute Lösungen, das Problem durch eine multifunktionale Nutzung zu minimieren – zum Beispiel eben durch Agri- und Moor-Photovoltaik oder durch biodiversitätsunterstützende Maßnahmen. Dass solche Lösungen verstärkt umgesetzt werden, daran müssen wir arbeiten.

Unser Bundesamt hat Ende 2022 ein Positionspapier zum naturverträglichen Ausbau der Photovoltaik veröffentlicht. Darin empfehlen wir, für die Photovoltaik in erster Linie bereits versiegelte oder bebaute Flächen zu nutzen, wie Dächer und Parkplätze.

Es gilt weiter, Doppelnutzungen zu realisieren und stärker zu fördern, also beispielsweise Photovoltaik im Obstbau in Kombination mit Hagelschutz. Gerade solche Ansätze erscheinen besonders vielversprechend, mit denen verschiedene Interessen kombiniert werden.

Allerdings: Die Flächenkonkurrenz entsteht nicht nur mit der Photovoltaik auf Freiflächen. Viel größere Flächen werden Landwirtschaft und Naturschutz durch Bebauungen und Versiegelung entzogen.

Nicht vergessen sollten wir auch, dass Agrarflächen auch für den Anbau von Energiepflanzen genutzt werden. Hier wäre eine Nutzung mithilfe von Photovoltaik aus Natur- und Klimaschutzgründen effizienter. Das würde auch den Druck reduzieren, den die Freiflächen-Photovoltaik auf naturschutzrelevante Flächen ausübt.

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