Hans Joachim Schellnhuber im Portait
Der Physiker Hans Joachim Schellhuber warnt seit Jahren vor den unbeherrschbaren Folgen eines extremen Klimawandels. (Foto: PIK)

Klimareporter°: Herr Professor Schellnhuber, die meisten Kinder, die heute geboren werden, werden das Jahr 2100 erleben. Wie wird die Welt dann aussehen?

Hans Joachim Schellnhuber: Es gibt vermutlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir schlafwandeln hinein in eine Klimakrise mit dramatischen Folgen für die Weltgemeinschaft. Oder wir führen bewusst die rasche Transformation zur Nachhaltigkeit herbei, die uns dann sogar einen neuen globalen Entwicklungsschub bescheren würde. Wir haben es noch immer in der Hand, die richtigen Weichen zu stellen.

Was bedeutet die erste Variante?

Sie bedeutet, dass wir angesichts der großen Herausforderungen – Klimaproblem, aber auch Übernutzung der natürlichen Ressourcen, Artenschwund, Erosion der Böden – versagen. Wir geben den Multilateralismus auf, also den Versuch, mit knapp 200 Staaten in der Welt grenzüberschreitende politische Lösungen zu finden. Wir überlassen die digitale Revolution einigen Großkonzernen, sodass dieser Fortschritt die Unterschiede zwischen Arm und Reich vertieft, statt sie zu mildern. Ohnehin schwelende Konflikte werden angefacht, manche flammen gewaltsam auf.

Möglicherweise wird dann nur noch eine Minderheit der Menschen auf diesem Planeten ein gutes Leben führen können, und der Mehrheit wird es schlecht ergehen. Es wäre ein Rückfall in den historischen Normalzustand, wo die Wenigen im Luxus schwelgten, während die Vielen gerade so über die Runden kamen – wenn überhaupt. Jedes Geschichtsbuch gibt darüber Aufschluss. Sich das im globalen Maßstab vorzustellen ist deprimierend, aber genau dies könnte geschehen.

Und die positive Vision?

Es ist zumindest vorstellbar, dass die moderne Industriegesellschaft jenen Herausforderungen etwas unwillig, aber am Ende tapfer begegnet und dadurch die Menschheit einen neuen Entwicklungsschub erfährt. In der Vergangenheit gab es zwei mächtige zivilisatorische Neuerungen, die neolithische Revolution, also die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, und die industrielle Revolution.

Die Nachhaltigkeitsrevolution wäre die nächste Steilstufe, die wir jetzt erklimmen könnten. Es kann sein, dass die Klimakrise hier sogar im positiven Sinne als Antrieb wirkt und wir die Möglichkeiten zu ihrer Lösung – die erneuerbaren Energien, smarte Materialien, die künstliche Intelligenz – für den allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt nutzen können.

Welche der beiden Zukünfte ist wahrscheinlicher?

Wissenschaftlich kann man das nicht quantifizieren. Intuitiv würde ich derzeit beide für etwa gleich wahrscheinlich einstufen.

Sie haben die Krisenvison für den Klimasektor jüngst zusammen mit Forscherkollegen ausbuchstabiert. Sie warnen vor einer "Heißzeit" selbst bei Einhaltung des Zwei-Grad-Limits, das im Pariser Klimavertrag steht – ausgelöst durch Kippelemente wie das Abschmelzen des Grönland-Eises und das Austrocknen des Amazonas-Regenwaldes. Was bedeutet das konkret für das Leben auf dem Planeten?

Zur Person

Hans Joachim Schellnhuber ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Globale Umweltveränderungen (WBGU), der die Bundesregierung berät. Zurzeit sitzt er außerdem in der Kohlekommission der Bundesregierung. Er hat an Berichten des Weltklimarates IPCC mitgearbeitet und unter anderem die Bundeskanzlerin, die EU-Kommission, den UN-Generalsekretär und den Papst beraten.

In diesem Monat übergibt der Physiker die Leitung des PIK an den Ökologen Johan Rockström und den Klimaökonomen Ottmar Edenhofer. Die Bilanz seines Forscherlebens zog Schellnhuber in dem 700-Seiten-Buch "Selbstverbrennung – die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff".

Wir haben uns dabei an der Erdgeschichte der letzten 30 Millionen Jahre orientiert und untersucht, wann die Atmosphäre ähnlich viel CO2 enthielt wie heute. Dabei zeigt sich: Der Planet war zum Beispiel bei vergleichbarer Kohlendioxidkonzentration wie jetzt im mittleren Miozän vor 15 bis 17 Millionen Jahren um bis zu sechs Grad wärmer und der Meeresspiegel lag bis zu 60 Meter höher.

Der Rückfall der heutigen Welt in eine solche Heißzeit würde zwar vielleicht 1.000 Jahre dauern, doch das wäre immer noch 100-mal schneller, als solche Veränderungen typischerweise in der Erdgeschichte abgelaufen sind. Vor allem aber gab es solche raschen und heftigen Klimaveränderungen noch nie in der Geschichte der menschlichen Zivilisation, also im sogenannten Holozän der vergangenen 11.000 Jahre. Fachen wir wirklich eine Heißzeit an, dann wird das alle Lebensbedingungen fundamental verändern.

Was würde, wenn die Welt auf eine Heißzeit zusteuert, in diesem Jahrhundert geschehen?

Die Erwärmung würde bis 2100 wohl schon drei bis vier Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit erreichen. Derzeit ist im globalen Mittel erst ein Grad Erwärmung vollzogen – und wir erleben ja, was diese vergleichsweise kleine Störung bereits für Folgen hat.

Sie meinen den Hitzesommer in diesem Jahr?

Unter anderem. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass ein solches Ereignis durch den Klimawandel um einiges wahrscheinlicher geworden ist. Bereits beim "Jahrhundertsommer" 2003 hatten wir den Verdacht, dass er mit einer Veränderung der Zirkulationsmuster in der Atmosphäre zusammenhing – vor allem des sogenannten Jetstreams. Diese Höhenwindströmung, die die arktische Kaltluft von der temperierten Luft weiter südlich trennt, organisiert normalerweise den Wechsel von Hoch- und Tiefdruckgebieten in unseren Breiten.

Inzwischen hat sich unser Verdacht verstärkt: Blockierende Wetterlagen wie in diesem Jahr – mit monströsen Hochdruckgebieten über Skandinavien, die einfach nicht weichen wollten und die ersehnten sonnigen Tage zu einer Hitzewelle anwachsen ließen – werden nun häufiger auftreten, weil der Jetstream wegen der überproportionalen Erwärmung der Arktis schwächelt.

Dieses Beispiel zeigt: Die Art, wie der Klimawandel sich vollzieht, ist für jede Menge Überraschungen gut. Ich bin selbst bestürzt, dass sich mit dem einen Grad Erwärmung bereits so durchgreifende Veränderungen manifestieren.

Wir hatten 2003 einen Jahrhundertsommer, nun, 15 Jahre später, wieder einen. Wie oft müssen wir in Zukunft mit solchen Ereignissen rechnen?

Mitte des Jahrhunderts könnte das im Mittel alle zwei Jahre passieren. Das heißt: Nördlich der Alpen bekommen wir ein eher mediterranes Klima, südlich der Alpen hingegen, in Italien, Spanien, Griechenland, wird sich tendenziell ein Wüstenklima entwickeln.

Ein mediterranes Deutschland – hört sich doch gut an.

Nach diesem Sommer denken viele wohl anders. Die Dürre hat vielerorts zu Missernten geführt, für Kinder und Alte ist die Hitze in den Städten ein Gesundheitsrisiko, und im zundertrockenen Wald steigt die Brandwahrscheinlichkeit. Hinzu kommt, dass wir keine linearen Entwicklungen erwarten dürfen. Wir müssen vor allem mit stärkeren Schwankungen rechnen.

2017 zum Beispiel hatten wir ein sehr nasses Jahr, teilweise waren die Äcker versumpft. In diesem Jahr nun waren sie völlig ausgetrocknet. Darauf kann man sich als Bauer nur schwer einstellen. Auch das Leben in den Städten wird belastender – wenn man Spitzentemperaturen von 38 Grad oder mehr bekommt und es nachts nicht mehr unter 25 Grad abkühlt.

Trotzdem gibt es Anpassungsmöglichkeiten ...

Richtig. Und Deutschland wird zunächst vergleichsweise glimpflich davonkommen. In anderen Teilen der Welt könnte der Mensch dagegen bei ungebremstem Klimawandel irgendwann rein physiologisch nicht mehr ungeschützt im Freien überleben – etwa am Persischen Golf, in Indonesien oder in Teilen von Afrika und Lateinamerika.

Und die Menschen dort werden natürlich nicht einfach abwarten, bis das Dasein völlig unerträglich ist, sondern vorher anderswo Lebensmöglichkeiten suchen. Es wird ein permanenter Migrationsdruck entstehen, eine Menschen-Drift Richtung Norden.

Die meisten Probleme werden dabei wohlgemerkt innerhalb der jeweiligen Länder und Regionen entstehen. Doch selbst wenn nur ein kleiner Teil der Hunderte Millionen Entwurzelter die Grenzen überschreitet, wird der Druck gerade auf Europa immens. Da werden die fünf oder sechs von Bayern Zurückzuweisenden recht irrelevant, mit denen der Bundesinnenminister sich so intensiv beschäftigt hat.

Aus Sicht der Wissenschaft ist es nicht nur menschlich geboten, sondern auch vernünftiger, die Fluchtursachen zu bekämpfen statt der Flüchtlinge.

Sie haben ihr letztes Buch "Selbstverbrennung" betitelt. Den Klimawandel haben Sie einen "Asteroiden-Einschlag in Zeitlupe" benannt. Kritiker werfen Ihnen Alarmismus vor. Tragen Sie extra dick auf?

Ich bin Physiker und achte professionell auf präzisen Umgang mit den Fakten. In der öffentlichen Kommunikation verwende ich natürlich auch Symbole und Metaphern, um mich den Menschen verständlich zu machen – aber ich wähle diese Hilfsmittel sorgfältig.

Überhaupt: Was ist ein Alarmist? Jemand, der aus einem brennenden Haus auf die Straße läuft und "Feuer" schreit? "Alarmismus" ist ein Kampfbegriff, der ursprünglich von neokonservativen Thinktanks in den USA entwickelt wurde, um unliebsame wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Urheber zu diskreditieren – zum Beispiel in der Debatte um die Schädlichkeit von Zigaretten.

Eigentlich ist es doch eine Selbstverständlichkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse, die große Bedeutung für die Gesellschaft haben, auch in die Öffentlichkeit zu tragen und nicht nur in Fachpublikationen zu dokumentieren. So gesehen müssten die meisten Forscher irgendwann zu "Alarmisten" werden.

Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews: "Die Haut und die Freiheit retten"

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