Foto eines Exemplars der Tobais Köcherfliege
Die Tobias-Köcherfliege kam nur im Mittelrheintal und am Main vor. Die starke Verschmutzung von Rhein und Main führte zu ihrem Aussterben. Trotz intensiver Suche wurde die Art nicht mehr gefunden. (Foto: Wolfram Mey/Museum für Naturkunde Berlin)

Das Massensterben der Arten ist in vollem Gange. Eine Million der etwa acht Millionen existierenden Arten auf der Welt gelten als stark bedroht und werden ohne tiefergehende Maßnahmen bis 2030 sehr wahrscheinlich ausgestorben sein.

Wir befinden uns bereits mitten im sechsten großen Massensterben der Erdgeschichte, dem größten seit dem Aussterben der Dinosaurier. Die globale Rate des Artensterbens nimmt immer weiter zu. Aktuell ist sie etwa um den Faktor zehn bis hundert höher als der Durchschnitt der vergangenen zehn Millionen Jahre.

Die Klimaerhitzung und das Massensterben der Arten sind beide menschengemacht und lassen sich als globale "Zwillingskrise" oder als "doppelte Bedrohung" bezeichnen. Manche Wissenschaftler:innen gehen noch ein Schritt weiter. Für sie ist die Klimaerhitzung "die kleinere Katastrophe" und das Massensterben der Arten "die größte Gefahr für den Menschen".

Sind die Folgen für natürliche und menschliche Systeme sehr komplex, lässt sich dennoch sagen: Die Verfügbarkeit von sauberem Wasser und atembarer Luft sowie die menschliche Fähigkeit, sich mit Stoffen aus der Natur zu heilen, gelten als stark bedroht. Vor allem aber gilt: Unser Boden ist "vom Aussterben bedroht". Das globale Ernährungssystem ist im Begriff, darunter zusammenzubrechen. Die Folge: eine globale Ernährungskatastrophe.

Wie kann es da sein, dass darüber kaum andauernde öffentliche Debatten stattfinden?

Unterbelichtet in Medien und Politik

Ökologische Debatten drehen sich fast nur noch um das Klima. Noch immer wird gegen die menschengemachte Klimaerhitzung nicht genug getan und die derzeitigen Lösungsansätze und Maßnahmen werden nicht ausreichen, die weitere Erhitzung der Erdatmosphäre aufzuhalten. Soziale Bewegungen und Organisationen haben dennoch einen spürbaren Beitrag geleistet: Die menschengemachte Klimaerhitzung ist in aller Munde.

Doch mit Blick auf das Massensterben der Arten hat dies einen faden Beigeschmack. Das scheuklappenartige Debattieren über die Klimaerhitzung macht diese zweite Bedrohung zu einem medial erschreckend unterbelichteten Thema.

Die Suchmaschinenergebnisse für die jeweils drei häufigsten Synonyme für "Klimaerhitzung" und "Massensterben der Arten" stehen im Verhältnis von 75 zu eins: Rund 136 Millionen Treffer für "Klimawandel", "Klimakrise" oder "Klimakatastrophe", aber nur 1,8 Millionen Treffer für "Artensterben", "Biodiversitätsverlust" oder "Massensterben der Arten".

Die Einseitigkeit der Diskurse zeigt sich auch in der Qualität. Talkshows, Wissenschaftssendungen und Dokumentationen behandeln ökologische und soziale Fragen fast ausschließlich im Kontext der Klimaerhitzung. Als ich kürzlich in zwei anderen Magazinen Artikel veröffentlichte, wurde die Ankündigung in beiden Fällen auf die Klimadebatte reduziert. Das Argument: Das diene der Suchmaschinenoptimierung. Solche Informationsfallen gilt es dringend aufzubrechen.

Die internationale Gemeinschaft hat alle 20 Ziele für den Erhalt der weltweiten Biodiversität, die von den Vereinten Nationen für das Jahr 2020 gesetzt wurden, verpasst. Für die politische Landschaft in Deutschland ist das Massensterben der Arten ebenfalls kaum ein Thema. Tun sich fast alle Parteien schon schwer damit, die Bedrohlichkeit der Klimaerhitzung anzuerkennen, bekommt die Biodiversitätskrise noch weniger Aufmerksamkeit.

Selbst die Grünen profilieren sich lediglich als Klimapartei. Beim Parteitag im Januar war fast ausschließlich die Rede von Klimaschutzvorhaben und der Notwendigkeit ihrer Durchsetzung auch gegen umweltpolitische oder landschaftsschützerische Anliegen. Wären sich die Grünen der essenziellen Bedrohung bewusst, dann hätten wir mit den Ministerien für Umwelt und Landwirtschaft zwei weitere Superministerien.

Zusammenhänge nicht weiter ignorieren

Die beiden Phänomene sind nicht voneinander zu trennen. Die Klimaerhitzung ist eine der Ursachen für das Massensterben der Arten, und der Verlust der biologischen Vielfalt verschlimmert die Klimafolgen. Zahlreiche Maßnahmen, die zur Bekämpfung der einen Krise angewandt werden, sind auch für die andere hilfreich. So trägt beispielsweise der Erhalt von Wäldern und Mooren im Rahmen eines Klimaschutzprogramms auch zum Erhalt von Arten bei.

Über die Klimakrise und die großen Klimakonferenzen wissen viele Menschen heute ganz gut Bescheid oder haben zumindest die Möglichkeit, sich zu informieren. Doch wer weiß, was die Folgen des Massensterbens sind und sein werden – oder auch nur, wann die nächste Biodiversitätskonferenz stattfindet oder womit sich der Weltbiodiversitätsrat IPBES beschäftigt?

Tino Pfaff
Foto: XR

Tino Pfaff

Der Sozial­arbeiter, Sozial­pädagoge und Umwelt­aktivist war zwei Jahre Sprecher von Extinction Rebellion Deutsch­land. Zurzeit studiert er Gesellschafts­theorie an der Universität Jena. Außerdem ist er als Herausgeber tätig.

Erst im vergangenen Jahr haben sich der IPBES und der IPCC zusammengetan und im Juni ihren ersten gemeinsamen Bericht veröffentlicht. Das wichtigste Ergebnis: Keine der beiden Krisen ist zu bewältigen, ohne dass beide gemeinsam gelöst werden.

Ein treffendes Beispiel für die Folgen der einseitigen Bearbeitung ist das REDD-plus-Programm der Vereinten Nationen. Dabei werden unter anderem Waldflächen als CO2-Speicher deklariert und in Form von Zertifikaten angeboten, sodass etwa Unternehmen auf dem Papier klimaneutral werden können statt in der Realität.

Dabei werden auch Plantagen als Wälder gewertet. Eine Folge: CO2-Kompensation über Palmöl- und andere Plantagen wird dem Schutz von intakten Regenwäldern vorgezogen. So wird Biodiversität im Namen des Klimaschutzes zerstört.

In Deutschland zeigt sich das Dilemma am Beispiel der Elektrifizierung von Autos. Der bloße Eins-zu-eins-Austausch von fast 50 Millionen Privatfahrzeugen auf deutschen Straßen durch Elektrofahrzeuge wäre fatal für die weltweite Biodiversität. Denn die Gewinnung der dazu nötigen Ressourcenmassen kann nicht ohne neue Ökosystemzerstörung geschehen.

Sinnbildlich gesprochen wird eine Kohlegrube an einem Ort geschlossen, um an einem anderen eine Kupfermine zu eröffnen. Die ausbeuterischen und neokolonialen Verhältnisse im weltweiten Rohstoffsektor werden aufrechterhalten, sie bekommen lediglich eine andere Begründung.

Klimabewegungen müssen ihren Horizont erweitern

Klimagerechtigkeitsbewegungen verstehen sie sich als Akteur:innen der Aufklärung. Damit stehen sie vor der dringenden Aufgabe, dem Massensterben der Arten die Sichtbarkeit zu verleihen, die es benötigt.

Während beim Konzept der Klimagerechtigkeit die Verteilungsgerechtigkeit im Vordergrund steht, gibt die ökologische Gerechtigkeit auch dem nichtmenschlichen Leben eine Plattform. Während auf ersteres nicht selten Antworten gegebene werden, die die kapitalistische Eigentums- und Produktionslogik reproduzieren, diskutiert letzteres auch den Erhalt von Ökosystemen aus reinem Selbstzweck.

Keine Frage, die Komplexität von Ursachen, Folgen und Lösungsansätzen kann erschlagend wirken. Doch es ist ein schwaches Argument, die Mitbürger:innen nicht mit Informationen überladen zu wollen. Eine Zukunft, in der die Weltgemeinschaft ohne fossile Energieträger auskommt, ist etwas anderes als eine Zukunft, in der Biotope und Ökosysteme intakt sind.

Damit nicht genug, gibt es neben der Klimaerhitzung und dem Massensterben der Arten noch sieben weitere planetare Grenzen, die die Stabilität der Biosphäre und der sozialen Gefüge von Gesellschaften bedrohen. Dies sind chemische Verschmutzungen, industrielle Landnutzung, die Störung des Phosphor- und Stickstoffkreislaufs, die Versauerung der Ozeane, der Abbau des Ozons in der Stratosphäre, der Einfluss von Aerosolen auf die Atmosphäre und der Verbrauch von Süßwasser.

Acht von diesen neun planetaren Grenzen wurden bisher genauer untersucht. Dabei kam heraus, dass die fünf zuerst genannten wahrscheinlich bereits überschritten sind

Im Grunde haben alle diese Grenzüberschreitungen eines gemeinsam, sie bedrohen das Leben auf der Erde. Allein an der menschengemachten Luftverschmutzung starben 2019 weltweit etwa 1,8 Millionen Menschen.

Außerdem verschlechtern sich die (Über-)Lebensbedingungen insgesamt. Am stärksten ist die globale Nahrungsmittelproduktion gefährdet. Das Fatale dabei: Die Art, wie Lebensmittel produziert werden, überdehnt die planetaren Grenzen ganz besonders – was wiederum den Mangel an Nahrungsmitteln verstärkt. Ein gefährlicher Kreislauf.

Wir müssen verstehen, was gerade vor sich geht: Das Leben auf der Erdoberfläche wird ausgerottet, und das immer schneller. Ein sozial-ökologischer Kollaps gewinnt an Wahrscheinlichkeit.

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