Die Bundesregierung will die Nutzung von Erdgas zur Stromproduktion möglichst stark herunterfahren, um den Gasmangel abzufedern, der sonst die Industrie und den Heizungssektor treffen könnte. Deswegen sollen Kohlekraftwerke, die eigentlich zur Abschaltung anstehen, nötigenfalls weiter betrieben werden können.
Eine Gruppe von Energieexperten warnt jedoch davor, generell auf Gaskraftwerke verzichten zu wollen. Erdgas im Stromsektor sei weiterhin als "Brückentechnologie" notwendig, um die Stabilität des Stromsystems bei steigenden Anteilen des fluktuierenden Ökostroms sicherzustellen, argumentieren sie in einem Positionspapier.
Die Experten vom Westfälischen Energieinstitut (WEI) der Westfälischen Hochschule mit Sitz in Gelsenkirchen begrüßen die Pläne der Ampel-Bundesregierung, den Anteil des Ökostroms bis 2030 deutlich auf 80 Prozent anzuheben. Derzeit sind es rund 50 Prozent. Allerdings entstünden dadurch "nicht unbeträchtliche Herausforderungen bei der Versorgungssicherheit".
Der Erneuerbaren-Ausbau müsse daher auf jeden Fall von Brückentechnologien begleitet werden. Dazu zählten flexibel regelbare Erdgas-Kraftwerke, die künftig auch mit grünem Wasserstoff betrieben werden könnten, ebenso Biogasanlagen.
Markus Löffler, Professor in Gelsenkirchen und einer der Studienautoren, erwartet, "dass Erdgas mindestens noch zehn Jahre als Brücke gebraucht wird, bis dann Wasserstoff diese Rolle übernehmen kann", wie er Klimareporter° sagte.
Zusätzlich müsse das "Lastenverschiebungsmanagement" deutlich verbessert werden, also der Stromverbrauch flexibler gemacht werden. Dabei nutzt man die Möglichkeit, dass zum Beispiel industrielle Verbraucher wie Aluminiumhütten, aber auch Wärmepumpenheizungen in privaten Haushalten eine gewisse Zeit abgeschaltet werden können, ohne den Arbeitsprozess zu beeinträchtigen.
Weiterer Punkt der WEI-Gruppe: Die Elektrizitätsverbindungen ins Ausland, die sogenannten Grenzkuppelstellen, sollten ausgebaut werden, um die Stromversorgung bei Überschuss oder Mangel von Ökostrom besser ausgleichen zu können.
Chancen für Entwicklungsländer
Deutschland wird trotz des forcierten Erneuerbaren-Ausbaus nach Einschätzung der WEI-Experten "weiter ein Energieimportland bleiben". Zwar könne die Einfuhr von Kohle, Erdöl und Erdgas heruntergefahren werden, doch entstehe eine neue Abhängigkeit vom Ausland, weil die Potenziale für die heimische Erzeugung von grünem Wasserstoff für die Anwendungen im Strom- und Industriesektor nicht ausreichten. Auch Basiswerkstoffe für Batteriespeicher wie Kobalt und Lithium müssten importiert werden.
Die Studie erkennt hierin durchaus auch Chancen für Entwicklungsländer etwa in Afrika, zum Beispiel Marokko oder Namibia, für die es bereits entsprechende Konzepte gebe. Sie könnten zukünftig Einkommen aus dem Export von Öko-Energie erzielen und damit auch die eigene Versorgung von fossil auf grün umstellen.
"Hier bietet sich eine neue internationale Arbeitsteilung an, bei der dort grüner Wasserstoff erzeugt und nach Europa exportiert wird", sagte WEI-Professor Heinz-Josef Bontrup, ein weiterer Autor der Studie, gegenüber Klimareporter°. Dazu müssten aber die reichen Industrieländer wie Deutschland entsprechende technische und finanzielle Unterstützung bereitstellen.
Die Experten betonen, die Energiewende sei "ohne Lenkung und Regulierung durch den Staat nicht umsetzbar". Um die nötigen Finanzmittel aufzubringen, müsse an mehreren Stellschrauben gedreht werden. So sei eine Verschuldung des Staates unumgänglich. Die im Grundgesetz verankerte strikte Schuldenbremse solle daher durch eine "an den Zukunftsinvestitionen orientierte Schuldenbegrenzung" abgelöst werden.
Das sei "generationengerecht", sagte Bontrup, da die Investitionen in ein erneuerbares Energiesystem zukünftige Kostensenkungen gegenüber dem fossilen System ermöglichten und die Umwelt- und Klimaschäden verringerten. Außerdem sei es nötig, hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften wesentlich höher als heute zu besteuern.