Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.
Klimareporter°: Herr Müller, eine Gruppe renommierter Ökoenergie-Forscher fordert, bis 2030 den Stromsektor zu dekarbonisieren und bis 2035 die restlichen Bereiche – von Heizung und Kühlung über Industrie bis Verkehr. Das bis 2035 zu erreichen, halten auch Bewegungen wie Fridays for Future für möglich. Welchen Sinn haben solche Forderungen, bei denen die meisten annehmen, dass sie unrealistisch sind und nie erfüllt werden?
Michael Müller: Ich finde es richtig, von Dekarbonisierung zu sprechen, statt den schwammigen Begriff der "Klimaneutralität" zu verwenden. Um die Klimakrise in globaler Verantwortung zu bewältigen, geht es um das 1,5-Grad-Ziel. Das ist der Maßstab, an dem wir uns orientieren müssen. Es geht um das Notwendige und nicht um das scheinbar nur Mögliche.
Von daher ist die Forderung der Energieforscher richtig, zumal die Klimadebatte oft zu sehr auf die erneuerbaren Energien reduziert wird. Es geht auch um eine Effizienzrevolution, bei der das Wachstum der Energieproduktivität deutlich höher als das wirtschaftliche Wachstum liegt. Notwendig sind auch Dematerialisierung und eine Metallpolitik.
Und notwendig ist auch Suffizienz, bei der die entscheidende Frage ist, ob in erster Linie wieder sozial schwächere Schichten die Lasten tragen müssen. Ein Prozent der Weltbevölkerung ist für 15 Prozent aller Treibhausgase verantwortlich, während die "unteren" 50 Prozent rund acht Prozent verursachen.
Der Bundeswirtschaftsminister, die SPD und die Grünen sind dafür, die EEG-Umlage abzuschaffen, am besten schon 2025, und die Milliardenkosten der Energiewende aus Steuermitteln zu bezahlen. Sie versprechen sich davon ein besseres Image der Ökostrom-Förderung und den Einsatz von mehr grünem Strom, um zum Beispiel Wasserstoff zu erzeugen. Wird diese Rechnung aufgehen?
Da ist wohl was angestoßen worden, was sich in falscher Weise verselbständigt hat. Es wäre falsch, die EEG-Umlage abzuschaffen, zumal die Wettbewerbsungleichheit zu konventionellen Anbietern weiterbesteht.
Ich habe das so verstanden, dass heute im EEG einbezogene Kosten, die eigentlich woanders hingehören, wie Mittel für Forschung und Entwicklung oder die Besondere Ausgleichsregelung, rausgenommen und aus Steuermitteln oder aus der CO2-Bepreisung bezahlt werden sollten.
Tatsächlich wurde die Umlage immer mehr belastet, aber im Grundsatz ist sie richtig. Deshalb muss genauer über die Ausgestaltung der Umlage geredet werden. Und dann sollten auch andere Fragen einbezogen werden, etwa die Rolle der Strombörse, die die Erneuerbaren teurer macht.
Die SPD hat für den kommenden Bundestagswahlkampf die Losung ausgegeben: "Sozial, digital, klimaneutral." Mal abgesehen vom Binnenreim – passt das alles inhaltlich zusammen und kann die SPD damit bei der Wahl punkten?
Eine gute Überschrift ist das zweifellos nicht. Ich würde als Leitlinie für eine sozial-ökologische Gestaltung der Transformation eintreten. Darum geht es, um die erneute Bändigung der Märkte, um zu einem neuen Modell von gesellschaftlichem Fortschritt zu kommen.
Ich finde das Papier technokratisch, elektrisiert hat es mich nicht. Das, was wir dringend brauchen, nämlich eine motivierende Grundlage für gesellschaftliche Strukturreformen, ist das Papier nicht.
Und was war Ihre Überraschung der Woche?
Dass die Impfungen gegen Covid-19 und seine Mutanten auch fast zwei Monate nach dem Start noch immer im Schneckentempo ablaufen, aber es dem Gesundheitsminister dennoch gelingt, von seinem eigenen Versagen und dem der EU abzulenken. Wie soll da Vertrauen geschaffen werden?
Dabei kommt die noch viel wuchtigere Pandemie erst auf uns zu: die Klimakrise, bei der die globale Erwärmung das Fieber ist, das das Immunsystem der Erde zerstört und menschliches Leben wie nie zuvor gefährdet.
Fragen: Jörg Staude