Hier ist Michael Müller zu sehen, SPD-Vordenker und Mitglied des Kuratoriums von Klimareporter.
Michael Müller. (Foto: Martin Sieber)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrats erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Michael Müller, als SPD-​Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands.

Klimareporter°: Herr Müller, die Debatte um die WDR-Parodie eines Kinderlieds, in dem Oma als "Umweltsau" bezeichnet wird, dauert an. Symptom für einen tieferliegenden Generationenkonflikt?

Michael Müller: Ich will mich zur künstlerischen Freiheit des WDR nicht äußern, auch wenn manche Kritik an dem Sender wenig glaubwürdig ist. Da wird auch ein altes Klischee neu mobilisiert.

Ich bedaure, dass durch diesen Vorgang die Debatte über den Klimawandel in eine falsche, personalisierte Richtung geht – zumal es viele ältere Menschen gibt, die sich in ökologischen Fragen sehr engagieren, während viele Jugendliche mit Suffizienz nichts am Hut haben.

Entscheidend aber ist, dass wir mit dieser Diskussion nicht auf die entscheidenden Ursachen der Klimakrise stoßen, die in erster Linie eine Krise des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modells ist.

Wir brauchen eine gewaltige Gemeinschaftsanstrengung, um zu einer sozial-ökologischen Transformation zu kommen. Die wird nicht möglich, wenn es nicht zu einer Disziplinierung der Marktkräfte kommt. Insofern geht es um weit mehr als persönliche Verhaltensänderungen. Die Klimakrise stellt die Gestaltungs- und Verteilungsfrage.

Wir erleben heute einen Epochenbruch, für den es drei gewichtige Gründe gibt: Erstens erodiert durch die Digitalisierung der Welt und die Globalisierung der Märkte die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates, der die Grundlage des wohlfahrtsstaatlichen Keynesianismus war.

Zweitens stößt wirtschaftliches Wachstum, das in den vergangenen Jahrzehnten den Verteilungsspielraum massiv erweitert hat und dadurch gleichsam zu einem sozialen Fahrstuhl wurde, an ökologische Grenzen. Dadurch wird sogar ein Ende der Zivilisation, so wie wir sie kennen, denkbar.

Drittens schlägt der technische Fortschritt, das moderne Irrtumslernen, dem die Menschheit fast alles zu verdanken hat, in eine gigantische Selbstgefährdung um – durch nicht beherrschbare Großtechnologien, aber auch durch die massenhafte Anwendung von Alltagstechnologien wie bei der motorisierten Mobilität. Es geht daher um sehr viel mehr als ein verändertes individuelles Verhalten, so wichtig dieses ist.

Natürlich ist der anthropogene Klimawandel auch ein Generationenkonflikt – in dem Sinne, dass junge Menschen von den Folgen heutiger Versäumnisse stärker betroffen sind. Ihnen wird der Boden ihrer Zukunft weggezogen. Aber gerade deshalb brauchen wir eine ernsthafte und rationale Debatte, die auch die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge einbezieht.

Klimaschützer haben große Hoffnungen in die neuen SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gesetzt. Werden die beiden diese Hoffnungen erfüllen?

Das kann ich nicht beantworten. Heute sehe ich keine Partei, die ein Konzept der sozial-ökologischen Transformation offensiv vertritt. Transformation wird bei der Union für Veränderungen genutzt, bei den Grünen für eine Zukunftshoffnung, aber der springende Punkt für eine Transformation ist die gesellschaftliche Einbettung selbstregulierter Märkte.

Es geht darum, dem Verwertungsmechanismus ökologische Grenzen zu setzen – was ohne mehr soziale Gerechtigkeit nicht möglich wird. Die neue SPD-Führung hat nur dann Chancen, wenn sie die ökologischen Herausforderungen mit der programmatischen Tradition der sozialen Gerechtigkeit, des Kampfes um mehr Demokratie und der Neubestimmung der Fortschrittsidee verbindet.

Insofern ist es ein positives Zeichen, dass der Beschluss des jüngsten SPD-Parteitages vom Anthropozän ausgeht, um zu einer Positionsbestimmung zu kommen. Das ist das programmatische Dach, das – wenn es ernst genommen wird – eine sozial-ökologische Transformation notwendig macht.

In der Diskussion um das Tempolimit hat die Bundesregierung die neue SPD-Spitze abblitzen lassen – es gebe "keinen neuen Stand" dazu. Was kann die SPD in der Regierung klimapolitisch noch bewirken?

Deutschland gehört zu den wenigen Ländern weltweit, in denen es kein Tempolimit gibt. Die anderen Länder ohne Tempolimit sind Entwicklungsländer, in denen es sich schon wegen der Straßenverhältnisse verbietet, das Gaspedal durchzudrücken. Insofern schädigt die deutsche Maßlosigkeit die Glaubwürdigkeit umweltpolitischer Ankündigungen und Forderungen.

Die dürftigen Argumente der Tempolimit-Gegner sind nicht überzeugend. Die Debatte zeigt aber auch, dass Schwarz-Grün keine Lösung sein kann. Es geht um ein politisches Projekt, eben um die sozial-ökologische Transformation, die mit der Union nicht machbar ist. Schwarz-Grün ist eine machtpolitische Option, aber keine gestaltungspolitische.

Das Jahr 2019 war in Deutschland zusammen mit dem Jahr 2014 das zweitwärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Das steht jetzt fest, nachdem der Deutsche Wetterdienst Ende Dezember noch vom drittwärmsten Jahr gesprochen hatte. Haben wir uns zu sehr an solche Rekordmeldungen gewöhnt?

Ganz ohne Zweifel liegt darin eine Gefahr der Gewöhnung, zumal die weltweiten Folgen des anthropogenen Klimawandels zeitlich und räumlich auf tragische Weise ungerecht verteilt sind. Heute feiern wir gleichsam eine Party auf Kosten der Armen und der künftigen Generationen.

Wir müssen alles tun, um den notwendigen Perspektivenwechsel in unserem Denken und Handeln deutlich zu machen. Aus den Arbeiten von Alexander und Margarete Mitscherlich wissen wir, dass wir für grundlegende Veränderungen einen Dreischritt brauchen: Erkennen und Durchdringen des Problems, Ablösen vom Bestehenden und Schaffen der Grundlagen für den Neuanfang. Die Mitscherlichs nannten das die "Fähigkeit zu trauern". Das betrifft auch die ökologische Selbstgefährdung der industriellen Zivilisation.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Die "erwartete Überraschung" war, dass Deutschland inzwischen eine Erwärmung von mehr als 1,5 Grad erreicht hat. Seit den 1960er Jahren war jedes Jahrzehnt im Durchschnitt wärmer als das vorherige.

Die peinliche Überraschung war, dass die Bundeskanzlerin eine "Neujahrsansprache in Grün" gehalten hat. Sie versprach für die Zukunft mehr Klimaschutz.

Was soll das denn? War Angela Merkel nicht schon 1990, als das erste Minderungsszenario für Treibhausgase vom Bundestag vorgelegt und beschlossen wurde, im Kabinett Kohl dabei, das damals ein Minderungsziel von 25 Prozent bis 2005 für die alten Bundesländer festgelegt hat – und ein deutlich höheres Ziel für die neuen?

Hat sie nicht als Umweltministerin ab 1994 das Erbe ihres Vorgängers Klaus Töpfer ignoriert, ja regelrecht abgewickelt? Hat sie sich nicht 2005 und in den folgenden Jahren als "Klimakanzlerin" feiern lassen, sogar eine baldige "Dekarbonisierung" angekündigt?

Wie vergesslich muss man sein, um das noch zu verstehen?

Fragen: Friederike Meier

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