Windpark in offener Landschaft mit Raps- und anderen Feldern.
Klimaziele sind gut und schön, aber die CO2-sparenden Anlagen müssen auch in Gang gebracht werden. (Foto: Silke Kleinhückelkotten/​SMiG)

Deutschland 2035 klimaneutral? Das ist möglich, sagt die vor einem halben Jahr erschienene Studie, die das Wuppertal-Institut für Fridays for Future anfertigte.

So weit wollte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) heute offenbar nicht nach vorn preschen. Zunächst solle Bayern bis 2040 klimaneutral werden, sagte Söder laut Medienberichten am heutigen Montag in München. Für den Bund schwebe ihm "2040 plus x" vor.

Dass nun der Wettbewerb der Ideen für die Klimaneutralität beginne, freue ihn, erklärte seinerseits Patrick Graichen, Chef des Thinktanks Agora Energiewende, heute zur Präsentation eines Vorschlags für ein neues Klimagesetz aus seinem Haus.

Graichens Team hatte erst vor einer Woche zusammen mit dem Schwester-Thinktank Agora Verkehrswende und der Stiftung Klimaneutralität eine Studie für ein klimaneutrales Deutschland im Jahr 2045 vorgelegt – die im Gegensatz zum bayerischen Vorschlag "sauber durchgerechnet" sei, wie Graichen anmerkte.

Neues Klimaziel für 2030

Das bisherige Klimaziel der großen Koalition – eine CO2-Reduktion um 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 – war ohnehin nicht mehr haltbar mit dem Beschluss der EU, das gesamteuropäische Klimaziel für den Zeitraum auf 55 Prozent anzuheben. Damit die EU das erreichen kann, muss Deutschland als größter Emittent und stärkste Volkswirtschaft Europas eine deutliche Schippe drauflegen.

Als erste in der Regierung legte sich Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) auf ein Ziel von minus 65 Prozent fest. Die Umweltministerkonferenz aus Bund und Ländern einigte sich dann Ende April auf einen Zielkorridor von 62 bis 68 Prozent CO2-Reduktion bis 2030.

Die 65 Prozent für 2030 ergeben sich auch für Patrick Graichen mehr oder weniger zwingend aus dem höheren EU-Ziel und dem nunmehrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts. "Das ist relativ abgesichert", so Graichen am Montag.

Dass sich die Regierungskoalition auf die 65 Prozent einigt, scheint ziemlich ausgemacht. Die Grünen legen die Latte vorerst höher und schlagen in einem gestern bekannt gewordenen Schreiben an die Koalition vor, das Klimaziel für 2030 auf 70 Prozent anzuheben. Diese Forderung kommt sonst nur noch von einigen Umweltverbänden wie dem BUND.

Anhebung des CO2-Preises

Mehr Gewicht in der politischen Debatte hat inzwischen der CO2-Preis. Hier geht es vor allem darum, den Preispfad zu ändern, wie er derzeit noch im Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) festgelegt ist. Dieses sieht nach dem Startpreis von 25 Euro je Tonne in diesem Jahr eine Steigerung auf mindestens 55 Euro im Jahr 2025 vor.

Sechs Punkte fürs Klimagesetz

Der Thinktank Agora Energiewende schlägt für das neue Klimagesetz sechs zentrale Punkte vor:

  1. Klimaneutralität für 2045 und nötige netto-negative Emissionen danach als Ziele
  2. Erhöhung des CO2-Einsparziels auf 65 Prozent bis 2030 gegenüber 1990, Einführung neuer Ziele für 2035 (77 Prozent) und 2040 (90 Prozent)
  3. Indikative Sektorziele bis 2045 als Orientierung für die CO2-Entwicklung nach 2030 in jedem Sektor, wie vom Verfassungsgericht verlangt
  4. Nachsteuerung und Sofortprogramm durch CO2-Preis-Automatismus
  5. Stärkung der Rolle des unabhängigen Expertenrats
  6. Einführung eines CO2-Schattenpreises: für Analysen und Berechnungen ist es sinnvoll, einen Schaden von 195 Euro je Tonne CO2 einzupreisen

Die Grünen plädieren dafür, den CO2-Preis zügig auf 60 Euro im Jahr 2023 anzuheben. Die Einnahmen sollten für eine Pro-Kopf-Rückerstattung, eine Senkung der EEG-Umlage sowie Zuschüsse für Menschen mit niedrigen Einkommen verwendet werden, schreiben die Spitzenpolitiker.

Agora Energiewende schlägt ihrerseits vor, den CO2-Preis im BEHG in den nächsten vier Jahren auf 100 Euro je Tonne zu steigern – also im Vergleich zum beschlossenen Preispfad praktisch zu verdoppeln. Mit den Einnahmen soll die EEG-Umlage dann auf null gesenkt werden.

Die CDU als größte Regierungspartei nannte heute keine konkreten Zahlen. Alexander Dobrindt, Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, forderte dagegen schon fürs kommende Jahr einen CO2-Preis von 45 Euro, wird mit Bezug auf den Münchner Merkur berichtet.

Für den EU-Emissionshandel schlägt Agora Energiewende vor, einen CO2-Mindestpreis von 40 bis 50 Euro je Tonne einzuführen. Das soll verhindern, dass sich der Preis für die Zertifikate gegenüber dem jetzigen Preisniveau noch einmal entscheidend absenkt.

Agora-Chef Graichen rechnet für 2030 im EU-Emissionshandel mit einem Niveau von 60 bis 70 Euro je Tonne CO2. Das würde reichen, um von dieser Seite einen Kohleausstieg bis 2030 abzusichern.

Kohleausstieg 2030

Für Agora Energiewende und andere Forschungseinrichtungen gehört das Vorziehen des Kohleausstiegs auf 2030 schon zu den unverzichtbaren Kernpunkten, soll Deutschland vor dem Jahr 2050 klimaneutral werden.

Weil die bayerische Kraftwerkswirtschaft von einem Kohleausstieg kaum betroffen ist, machte sich Markus Söder heute – wie früher auch schon – für einen beschleunigten Ausstieg stark und will dazu die finanziellen Anreize stärken.

"Mehr Kohle für weniger Kohle" müsse das Motto sein, sagte er laut den Berichten. Allerdings müsse das gesetzliche Ausstiegsdatum 2038 dafür nicht geändert werden, weil die Betroffenen Planungssicherheit bräuchten.

Einen früheren Kohleausstieg könne es geben, stimmte Graichen am Montag zu. Nur müsse dann eben der CO2-Preis entsprechend hoch sein. Den Kraftwerksbetreibern noch einmal Geld dafür zu geben, dass sie schneller aussteigen, hält er für absurd.

Ausbau von Wind- und Solarenergie

Wie schon in den Monaten zuvor scheint der Ausbau der erneuerbaren Energien der Stolperstein des Klimaschutzes zu sein. So sieht Söder für Bayern keinen Grund, die umstrittene 10‑H-Abstandsregel für neue Windkraft abzuschaffen. Stattdessen werde Bayern eher auf Repowering und den Ausbau von Photovoltaik setzen. Dass das Repowering durch rigide Abstandsregeln blockiert wird, stört Söder offenbar nicht.

Die Erneuerbaren blieben der "Schlüssel für den Klimaschutz", erklärte Simone Peter, Chefin des Branchenverbandes BEE, heute zur Klimadebatte. Nach Berechnungen ihres Verbandes muss der Ökostrom-Anteil 2030 bei 77 Prozent liegen, wenn das 55-Prozent-EU-Klimaziel zugrunde gelegt wird.

Bei der Photovoltaik muss sich die jährlich neu installierte Kapazität für den BEE in den nächsten acht bis neun Jahren mindestens vervierfachen – von heute 5.000 auf 20.000 Megawatt. Bei Windkraft an Land seien jährlich 8.000 neue Megawatt nötig.

Die Grünen halten einen künftigen Solar-Ausbau von mindestens 10.000 bis 12.000 Megawatt im Jahr für nötig, außerdem 5.000 bis 6.000 Megawatt bei der Windkraft. In dem Bereich bewegen sich auch viele Ausbau-Studien.

Ein Sofortprogramm

Ein neues Klimaschutzgesetz, selbst wenn es relativ schnell beschlossen wird, setzt erst einmal nur einen Rahmen, betonte Graichen am Montag. "Es vermeidet keine einzige Tonne CO2."

Das sei eben nur mit konkreten Maßnahmen zu erreichen: Kohleausstieg vorziehen, Erneuerbare ausbauen, Gebäudesanierung beschleunigen, E-Mobilität schneller einführen, Industrietechnologien dekarbonisieren – all dies bringe CO2-Minderungen.

"Ein Sofortprogramm Klimaschutz ist genauso dringend wie ein neues Klimagesetz", sagte Graichen. Bei aller Freude, dass jetzt alle über ein Klimagesetz redeten, sei das Sofortprogramm "mindestens genauso wichtig". Heute etwa einen höheren nationalen CO2-Preis zu beschließen, würde die Emissionen schon im kommenden Jahr deutlich senken.

"Nimmt man die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts ernst, muss ein rechtzeitiger Übergang in Richtung Klimaneutralität gewählt werden", erläuterte Graichen auf Nachfrage. Deswegen rede er sich ja den Mund fusselig beim Thema Sofortprogramm. Schon in diesem Jahr oder spätestens in den ersten hundert Tagen der neuen Legislaturperiode müsse es ein Maßnahmenpaket geben, das es in sich habe.

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