Geht die Zementproduktion zurück, sinkt der CO2-Ausstoß merklich, denn die Branche ist eine der klimaschädlichsten überhaupt. (Bild: Friederike Meier)

Die Schlagzeile liest sich auf den ersten Blick gut. 2023 war der CO2-Ausstoß in Deutschland so niedrig wie vor 70 Jahren, verkündete der Thinktank Agora Energiewende am Donnerstag.

Klimaexperten wissen: Die Welt kannte in den 1950er Jahren eine ausgefeilte Emissionsberichterstattung wie heute nicht. Wie also kommt die Denkfabrik zu ihrem Vergleich?

Für die Zeit vor der Wiedervereinigung haben die Autoren Daten zum Ausstoß von Treibhausgasen aus der Bundesrepublik und der DDR zusammengerechnet, schreibt beispielsweise die Süddeutsche Zeitung. Ganz so war es wohl nicht.

Bei dem Fünfziger-Jahre-Vergleich bezieht sich Agora Energiewende auf eine 2023 in der Fachzeitschrift Nature publizierte Analyse, in der eine Gruppe von Wissenschaftlern globale Emissionsdaten erhoben hatten, wie der Thinktank auf Nachfrage angibt.

Danach lagen die Treibhausgasemissionen in Deutschland – Ost und West zusammen – Anfang der 50er Jahre bei rund 630 Millionen Tonnen, in CO2-Äquivalenten ausgedrückt. 1955 waren es dann schon 875 Millionen Tonnen – das fossile Wirtschaftswunder lässt grüßen.

Inzwischen neigen sich die fossilen Zeiten offenbar dem Ende entgegen. Das zeigen einmal mehr die von Agora Energiewende am Donnerstag veröffentlichten Emissionsdaten. Danach lag der deutsche CO2-Ausstoß 2023 bei 673 Millionen Tonnen CO2. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Rückgang um 73 Millionen Tonnen, also um zehn Prozent.

Deutlich unterboten ist auch die entscheidende Vergleichsgröße für die inländische CO2-Bilanz: die Vorgabe des Klimaschutzgesetzes. Danach hätte Deutschland 2023 rund 722 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen können. Die Marke wurde also um fast 50 Millionen Tonnen oder rund sieben Prozent unterschritten.

Energie und Industrie sorgen für CO2-Einsparung

Die Agora-Bilanz bestätigt einige Trends, die sich schon bei anderen Rückblicken abzeichneten. So haben zur positiven Entwicklung vor allem Energiewirtschaft und Industrie beigetragen.

In der Energiewirtschaft sorgten ein rückläufiger Strombedarf (minus drei Prozent) sowie günstiger und vor allem auch erneuerbarer Strom aus den Nachbarländern dafür, dass hierzulande die Kohlekraftwerke aus dem Markt gedrängt wurden. Auch konnte sich Kohlestrom nicht gegen die auferstandene Stromerzeugung aus Erdgas durchsetzen.

Die Preise für Gas sind gegenüber denen für Kohle 2023 stark gesunken, sodass jetzt effiziente Gaskraftwerke früher zum Zuge kommen, erläuterte Thinktank-Direktor Simon Müller am Donnerstag. Die Emissionen aus der besonders klimaschädlichen Braunkohleverstromung sanken so um ein Fünftel und die aus Steinkohle um ein Sechstel. Das sei ein "historisches Tief", so Müller.

2023 hat Deutschland erstmals wieder mehr Strom importiert als exportiert. Der Importüberschuss deckte laut den Angaben etwa zwei Prozent des deutschen Strombedarfs. Inwieweit dadurch auch CO2-Emissionen ins Ausland verlagert wurden, dazu nennt Agora Energiewende keine Zahlen.

Beim zweiten großen CO2-Einsparer Deutschlands, der Industrie, sorgten hohe Energiepreise und eine schwache Nachfrage für einen Produktionsrückgang, gerade auch in der energieintensiven Industrie.

Konkret sieht das zum Beispiel so aus: Zum einen erzeugte die Industrie absolut weniger Produkte wie etwa Zement oder setzte weniger Erdgas ein. Das senkte die Emissionen um 17 Millionen Tonnen. Zum anderen benötigte die Industrie, weil sie weniger erzeugte, auch weniger Strom. Das sparte weitere rund acht Millionen Tonnen CO2 ein.

CO2-Minderung zur Hälfte "krisenbedingt"

Der Thinktank weist hier zu Recht darauf hin, dass damit ein Großteil der Emissionseinsparungen des Jahres 2023 weder industrie- noch klimapolitisch nachhaltig ist. So könnten die Emissionen konjunkturbedingt wieder steigen oder auf längere Sicht könnte Industrieproduktion ins Ausland verlagert werden.

In der Bilanz veranschlagt die Denkfabrik den Anteil der CO2-Senkung, der langfristig für die kommenden Jahre gesichert ist, auf lediglich 15 Prozent. Daraus dürfe nun aber auch nicht geschlossen werden, dass 85 Prozent der CO2-Einsparung allein krisenbedingt seien, betonte Simon Müller. Tatsächlich sei ungefähr die Hälfte der erzielten Senkung auf "krisenbedingte Konjunktureffekte" zurückzuführen.

Abgesehen von dieser Unsicherheit: Es bleibt dabei, dass Gebäude und Verkehr ihre Emissionsvorgaben deutlich verfehlen. Um im Verkehr das Ziel zu erreichen, 2030 rund 15 Millionen reine Elektroautos auf den Straßen zu haben, müssten die E‑Autos schon jetzt einen Anteil von rund 90 Prozent an den Neuzulassungen haben, rechnete Müller vor. Tatsächlich seien es derzeit aber nur knapp 20 Prozent.

Im Wärmesektor hat es, wie der Thinktank herausstellt, 2023 eine Art "doppeltes Rekordjahr" gegeben, nämlich sowohl bei der Zahl neuer Wärmepumpen als auch bei neuen konventionellen Heizungen. Insgesamt seien letztes Jahr aber mehr als zweieinhalbmal so viele fossile Heizungen verkauft worden als klimaneutrale.

Großteil der Emissionslücke bleibt bestehen

Müllers Bilanz fällt deswegen zwiespältig aus. Zwar sei Deutschland um knapp 50 Millionen Tonnen unter der Zielvorgabe des Klimaschutzgesetzes für 2023 geblieben. Doch weil eben nur 15 Prozent der Senkung langfristig sicher seien, dürfe man nicht davon ausgehen, dass Deutschland beim Klimaziel für 2030 auf Kurs sei, erklärte der Agora-Chef.

Müller bekräftigte auch die Gültigkeit der vom Umweltbundesamt in seiner letztjährigen Projektion festgestellten Emissionslücke von mindestens 200 Millionen Tonnen CO2 bis 2030. "Ein Großteil dieser Lücke besteht weiterhin", sagte Müller.

Als zentrales Problem für 2024 bezeichnete er die Sicherung der Klima-Finanzierung nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts. In der Industrie seien weitere Investitionen nötig.

Es komme darauf an, die Produktionsprozesse wirklich umzustellen – und nicht einfach ins Ausland zu verlagern. In dem Fall sei fürs Klima nichts gewonnen. Die niedrigen Emissionen des vergangenen Jahres sollten ein Ansporn sein, Deutschland jetzt auf Kurs für seine Klimaziele zu bringen, meinte Müller.

 

Vor allem wegen der Probleme im Wärmesektor und der Debatte ums Heizungsgesetz hat Agora Energiewende nun auch sein Tätigkeitsprofil neu bestimmt. Eine Lehre aus der Diskussion um das Gebäudeenergiegesetz sei, so Müller dazu, dass jetzt eine Phase der Energiewende begonnen habe, in der Bürgerinnen und Bürger wirklich in der Breite unmittelbar betroffen sind.

"Bei der Wärmewende ist buchstäblich jeder Haushalt betroffen", sagte er. Um diese soziale Dimension besser im Blick zu haben, habe man zum Beispiel den Sozialverband VdK in den Deutschlandrat von Agora Energiewende aufgenommen.

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