Das Ritual ist seit zehn Jahren gleich: Kaum ist Neujahr vorbei, verkündet der Thinktank Agora Energiewende die CO2-Bilanz Deutschlands fürs verflossene Jahr. 2024 stand eine CO2-Reduktion um drei Prozent zu Buche. Nicht viel, aber genug noch, damit Deutschland sein selbst vorgegebenes Klimaziel leicht unterbot.

Die Emissionsbilanz weist allerdings seit Jahren eine gewaltige Leerstelle auf. Denn das Konzept "klimaneutrales Deutschland" baut nicht nur auf – bestenfalls sinkende – Emissionen, sondern auch auf CO2-Senken.

So enthält das geltende Klimaschutzgesetz das Ziel, dass im Jahr 2030 Wälder, Moore, Äcker und Grünland zusammen 25 Millionen Tonnen CO2 absorbieren sollen. Dieser ganze Bereich wird im Klimasprech als Landnutzungs-Emissionen bezeichnet, oder kurz als LULUCF – für land use, land-use change and forestry.

Auch in der 2024er Bilanz speist Agora Energiewende den Sektor mit dürren Worten ab. Bei LULUCF sei der Wald die wichtigste Kohlenstoffsenke, schreibt der Thinktank und schränkt ein: Der neuesten, vierten Bundeswaldinventur zufolge ist der Wald seit 2017 zu einer Nettoquelle von Treibhausgasen geworden. Allerdings werde sich der Wald Projektionen zufolge bis 2030 wieder zu einer moderaten Senke entwickeln.

Dass der Wald bald wieder zu einer Senke wird, gibt die im Oktober 2024 veröffentlichte Bundeswaldinventur allerdings nicht her. Das schwante bereits zu der Zeit auch der Bundesumweltministerin. Wenn der heimische Wald von einer Senke zu einer Quelle von CO2 zu werden drohe, gebe es ein größeres Problem als bisher angenommen, gab Steffi Lemke (Grüne) damals zu Protokoll.

Bewertung durch Umweltministerium steht noch aus

Ihr Haus werde noch bewerten, welche Folgen die Waldinventur für den Klima-Umbau der Wälder habe, kündigte Lemke vor gut vier Monaten an. Diese Bewertung liege noch nicht vor, ließ das Ministerium jetzt auf Nachfrage wissen.

Inzwischen hat aber die Wissenschaft schon gerechnet. Zu verzeichnen ist demnach ein dramatisches Umkippen der Klima-Wirkung der hiesigen Wälder.

Geschädigte und tote Fichten im Reinhardswald in Nordhessen, Sommer 2019. (Bild: Baummapper/​Wikimedia Commons)

So heißt es in einer Ausarbeitung des Öko-Instituts Darmstadt: Vor der jüngsten Waldinventur war für die Jahre 2018 bis 2022 angenommen worden, dass die Bäume in Deutschland jedes Jahr zwischen 27 und 39 Millionen Tonnen CO2 aus der Luft holen und den Kohlenstoff dann in ihrer Biomasse speichern.

Tatsächlich aber haben die Waldbäume in dem von der Inventur untersuchten Zeitraum von 2017 bis 2022 im Schnitt jährlich mehr als 25 Millionen Tonnen CO2 abgegeben.

Der Switch ist dramatisch: Die Emissionsbilanz des deutschen Waldes kippte innerhalb weniger Jahre von "negativ" zu "positiv" im Umfang von etwa 50 Millionen Tonnen. Das entspricht ungefähr den jährlichen Emissionen des deutschen Agrarsektors.

Die Gründe fürs Umkippen sind vielfältig. In den Zeitraum fielen mehrere Dürrejahre. Auf rund zwei Millionen Hektar wurden Baumbestände geschädigt, starben teilweise vollständig ab. Allein der Fichtenvorrat schrumpfte laut den Angaben um fast ein Fünftel.

Verrotten die Bäume im Wald oder wird das Holz aus dem Wald geholt, verbrannt oder zu Produkten verarbeitet, wird früher oder später der Kohlenstoff als CO2 wieder frei.

Waldprognosen unterschätzen bisher Einfluss des Klimawandels

Die gehäuften Dürrejahre sind Folgen der Erderwärmung. Offenbar sind in den Prognosen bisher die Augen davor verschlossen worden, wie sehr der Klimawandel die CO2-Leistung der Wälder beeinträchtigt. Die zuvor angenommene große Senkenleistung, ist beim Öko-Institut zu lesen, habe auch auf vereinfachten Waldmodellen beruht, die die Wirkungen des Klimawandels auf den Wald nicht genügend berücksichtigten.

Der große CO2-Exodus aus dem Wald lässt sich nicht so leicht "reparieren". Junge Bäume auf aufgeforsteten Flächen bauen anfangs nur wenig Holzvorrat auf. Und wer viel CO2 im Wald speichern will, muss das Holz dort lassen. Wolle sich die Politik dem Klimaziel von 25 Millionen Tonnen Senkenleistung wieder annähern, müsste die künftige Holznutzung um 30 bis 50 Prozent reduziert werden, kommentieren Andreas Bolte und Bernhard Osterburg vom bundeseigenen Thünen-Institut die Lage.

Gegen so eine Einschränkung läuft nicht nur die Holz- und Forstwirtschaft Sturm – auch die beiden Thünen-Wissenschaftler lehnen einen klimapolitischen Rückzug aus dem Wald ab. Das würde Initiativen zum klimaneutralen Bauen mit Holz gefährden oder auch den klimagerechten Waldumbau selbst, warnen Waldökologe Bolte und Agrarökonom Osterburg. Denn eine neue Baumgeneration unter den Altbäumen brauche Licht, und das koste Kohlenstoffspeicher.

Stattdessen sprechen sich die beiden Thünen-Experten dafür aus, die "unrealistischen" und "starren" Ziele des Klimaschutzgesetzes für den LULUCF-Sektor zu ändern. Ihr Vorschlag: Auch Emissionen aus der Landnutzung sollten mit anderen Sektoren "verrechnet" werden können – so wie derzeit die zusätzliche CO2-Einsparung der Energiewirtschaft die Mehremissionen von Verkehr und Gebäuden kompensiert.

Und weil beim Wald aufgrund des Klimawandels und des Waldumbaus nicht viel zu holen sein wird, empfehlen Bolte und Osterburg zudem, sich bei der Emissionsreduktion auf fossile Energieträger – sprich Kohle, Öl und Gas – sowie die Moorvernässung zu konzentrieren.

Emissionen aus Landnutzung sollen voll bilanziert werden

Für eine "aggregierte Betrachtung" der Emissionen im Klimagesetz spricht sich auch der Wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium aus. Warum die Politik ausgerechnet den LULUCF-Sektor mit komplexen Ökosystemen, die in ihrer Klimaleistung sehr stark durch den globalen Wandel beeinflusst werden, nicht in die Gesamtemissionen einbezieht, sei "schwer nachzuvollziehen", schreibt der Beirat in einer Stellungnahme.

Weltweit werde davor gewarnt, die Klimaleistung von Ökosystemen zu überschätzen. Stattdessen seien, auch zum Schutz der Wälder, stärkere Emissionsminderungen nötig.

Um die Klimaleistung des Waldes zu erhalten, verlangen Umweltschützer zunächst einen Paradigmenwechsel in der Forstwirtschaft. Dabei geht es um den Erhalt alter Baumbestände, den Waldumbau zu resilienten Mischwäldern, um Totholzschutz, Naturwaldentwicklungsflächen sowie den Schutz humusreicher Waldböden, erklärt Peer Cyriacks von der Deutschen Umwelthilfe.

Für den Biologen und Naturschützer ist die Transformation der Landnutzung in Wäldern, Mooren und Feuchtgebieten eine ressortübergreifende Aufgabe großer Dimension. Das müsse endlich akzeptiert werden, so Cyriacks, der für die Finanzierung ein Sondervermögen "Klimaschutz, Klimaanpassung und natürlicher Klimaschutz" fordert. Gleichzeitig müsse der natürliche Klimaschutz eine neue grundgesetzliche Gemeinschaftsaufgabe werden.

Ministerium setzt auf natürlichen Klimaschutz

Mit konkreten Schlüssen aus der misslichen Lage des Waldes hält sich das Bundesumweltministerium zurück. Eine Sprecherin weist auf Nachfrage darauf hin, dass einerseits die LULUCF-Ziele im Klimaschutzgesetz "sehr ambitioniert" seien, während andererseits mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz in den letzten zwei Jahren so viel erreicht worden sei wie nie zuvor auf Bundesebene.

Trotzdem sei man in zentralen Bereichen wie dem Moorschutz noch nicht so weit, wie "wir es uns erhofft hatten", räumt die Sprecherin ein.

Um die LULUCF-Ziele insbesondere für 2030 erreichen zu können, müsse beim Aktionsprogramm "nachgesteuert" und "ergänzt" werden, betont die Sprecherin weiter. Dies bereite das Ministerium derzeit vor, damit eine neue Bundesregierung so schnell wie möglich ein Maßnahmenpaket beschließen könne.

 

So sehr allerdings die klimapolitische Logik dafür spricht, CO2-Senken gleichberechtigt im Klimaschutzgesetz zu berücksichtigen, so wenig wird sich jede künftige Bundesregierung darauf einlassen. 2024 lagen die CO2-Emissionen Deutschlands noch um 36 Millionen Tonnen unter der vom Klimagesetz gezogenen Obergrenze.

Der Puffer wäre so gut wie weg, würde der LULUCF-Bereich real einberechnet. Deutschland käme plötzlich unter Druck, in Sektoren wie Energie, Verkehr und Gebäude die Emissionen noch stärker oder überhaupt erst zu mindern.

In so eine Zwangslage wird sich keine Bundesregierung begeben. Es ist einfacher, die Klimaziele bei der Landnutzung unverbindlich zu lassen und sich den Klimaeffekt des Waldes weiter schönzurechnen, wie jetzt auch Agora Energiewende. Bäume können sich nicht wehren und gehen auch nicht wählen.