Mehr Autos, aber weniger Fahrten: Die Entwicklung im Verkehr in Deutschland ist schizophren. Doch sie könnte, gut gesteuert, einen Push für die Verkehrswende auslösen.
In Deutschland ist die Pkw-Flotte in den letzten fünf Jahren weiter gewachsen, um zwei Millionen auf inzwischen mehr als 49 Millionen Fahrzeuge. Doch deren tatsächliche Nutzung hat deutlich abgenommen, wie eine aktuelle Auswertung von Verkehrsdaten ergab, vor allem auf Autobahnen und in Großstädten.
Mobilitätsfachleute fordern die Politik auf, dies zum Anlass für einen klimafreundlichen Umbau des ganzen Verkehrswesens zu nutzen – unter anderem durch einen Verzicht auf Straßen-Neubauten, mehr Carsharing und bessere Bedingungen für den Rad- und Fußverkehr.
Der Berliner Thinktank Agora Verkehrswende hat das Verkehrsgeschehen in Deutschland in den Jahren 2019 bis 2023 analysiert, also seit dem letzten Vor-Corona-Jahr. Ergebnis: Im vorigen Jahr waren auf den Autobahnen sieben Prozent weniger Pkw unterwegs als 2019.
Eine ähnliche Entlastung zeigt sich in Großstädten wie Berlin, Hamburg und München, zum Teil ist sie dort noch stärker. Die Einbrüche durch die Corona-Lockdowns 2020, die vor allem die Pendlerfahrten stark reduzierten, wurden also nicht wieder "aufgefüllt".
Anders die Entwicklung im öffentlichen Verkehr. Hier hat die Zahl der Fahrgäste vielerorts fast wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht, zudem nahm die Verkehrsleistung laut Agora insgesamt zu, in Fernzügen sogar um sechs Prozent, weil die Kundschaft längere Strecken zurücklegt.
"Verkehrswachstum ist also kein Naturgesetz"
Als Ursachen für die Veränderungen im Verkehrsaufkommen seit Corona sieht der Thinktank vor allem drei Faktoren: die vermehrte Nutzung von Homeoffice in vielen Büros und Betrieben, die Einführung des Deutschlandtickets für 49 Euro monatlich und der sukzessive Anstieg der CO2-Bepreisung bei Benzin und Diesel.
Die Analyse hat Agora Verkehrswende auf Grundlage eines Berichts des Beratungsunternehmens KCW erstellt, für den Daten zum Verkehr auf Autobahnen und Bundesstraßen, zum öffentlichen Verkehr sowie zum Kfz- und Radverkehr in ausgewählten Städten ausgewertet wurden.
Agora-Vizedirektorin Wiebke Zimmer schloss daraus: "Die Verkehrsdaten bringen einen weit verbreiteten Glaubenssatz der Verkehrspolitik ins Wanken. Trotz leicht steigender Bevölkerungszahlen und einem stetig wachsenden Pkw-Bestand hat der Autoverkehr gegenüber 2019 abgenommen. Verkehrswachstum ist also kein Naturgesetz."
Umso wichtiger sei es, Mobilität und Verkehr politisch zu gestalten und dabei die Prioritäten zum Wohle der Allgemeinheit zu setzen, mit Rücksicht auf Klima- und Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung.
Der Thinktank hält es angesichts der Veränderung in der Nutzung von Auto, ÖPNV und Fahrrad für möglich, die Verkehrswende zu beschleunigen. So müssten das Angebot im öffentlichen Verkehr ausgebaut und die Bedingungen für den Rad- und Fußverkehr verbessert werden. Außerdem gehe es darum, die volkswirtschaftlichen Kosten des Autofahrens verursachergerecht anzurechnen und die über Jahrzehnte gewachsenen Privilegien des Autoverkehrs abzubauen.
"Bund, Länder und Kommunen stehen dafür alle in der Verantwortung", sagte Philine Gaffron, die bei Agora Verkehrswende den Bereich städtische Mobilität verantwortet. Für Kommunen hätten sich hier durch die jüngst beschlossene Reform des Straßenverkehrsrechts neue Handlungsspielräume eröffnet.
Mobilitätsforscher fordert Rücknahme der Auto-Förderung
Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), der im Frühjahr als erster auf die dauerhaften Verschiebungen im Verkehrsverhalten hingewiesen hatte, sagt im Gespräch mit Klimareporter° zu der Agora-Analyse: "Die Daten sprechen eine eindeutige Sprache, wir haben einen zurückgehenden motorisierten Individualverkehr."
Daraus müsse die Verkehrspolitik – von Bundesminister Volker Wissing (FDP) über die Verantwortlichen in den Ländern bis zu denen in den Kommunen – die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen, so der Mobilitätsforscher, der auch Professor an der TU Berlin ist.
Knie fordert einen Rückbau der Autoförderung durch Streichung der Dieselsteuer- und Dienstwagen-Subventionen sowie der Entfernungspauschale, die sich zusammen auf rund 20 Milliarden Euro pro Jahr summieren.
"Wissing sollte außerdem ein sofortiges Moratorium für den Bau von neuen Autobahnen und Bundesfernstraßen erlassen. Die Planungen dazu beruhen auf inzwischen überholten Verkehrsprognosen", sagt Knie. Nötig sei eine Konzentration auf die Sanierung des vorhandenen Netzes, das auf Verschleiß gefahren wird.
In den Städten bietet die veränderte Verkehrsmittel-Nutzung Knie zufolge "die einmalige Chance, die Lebens- und Aufenthaltsqualität durch mehr Grün zu verbessern". Das Motto müsse lauten: "Parks statt Parkplätze".
Allerdings müssten dann auch die Alternativen zur privaten Autonutzung viel attraktiver gemacht werden als heute. Der Forscher verweist auf die weiter steigenden Zulassungszahlen von Pkw, die damit immer mehr zu "Stehzeugen" statt Fahrzeugen würden.
"Die Leute kaufen sich ja ein Auto, weil sie die Sicherheit schätzen, bequem und flexibel irgendwohin fahren zu können, auch wenn sie es dann tatsächlich nur selten nutzen", sagt Knie. Ein Deutschlandticket für nur noch 29 Euro, ein dicht getakteter ÖPNV bis in späte Abendstunden hinein mit zusätzlichen Service-Funktionen wie Gepäcktransport und ein Ausbau des Carsharings könnten hier "eine neue strategische Bedeutung bekommen".
Bisher reagiert die Politik uneinheitlich auf die veränderte Lage im Verkehr. Die Bundespolitik hält an den bisherigen Planungen zum Straßenausbau fest. So sind im aktuell gültigen Bundesverkehrswegeplan der Neu- und Ausbau von 850 Kilometern Autobahnen und 2.000 Kilometern Bundesstraßen vorgesehen. Der Plan ist allerdings bereits 2016 beschlossen worden, also vor dem Corona-Knick.
In vielen Kommunen hingegen laufen Projekte, den vorhandenen Straßenraum neu aufzuteilen und bessere Bedingungen für den wachsenden Fahrrad- und Fußgängerverkehr zu schaffen, so auch in Großstädten wie Berlin, Frankfurt am Main oder Hannover. Stark verringerter Parkraum für Autos, sogenannte Superblocks, aus denen der Kfz-Verkehr weitgehend verbannt ist, die Ausweitung der Fußgängerzonen oder die Einrichtung von Fahrradstraßen sind Beispiele dafür.
Redaktioneller Hinweis: Mobilitätsforscher Andreas Knie gehört dem Herausgeberrat von Klimareporter° an.