Der Graefekiez gestaltet den Planacker. (Bild: Cléo Mieulet)

Von Jahr zu Jahr verschärft sich die Situation für die Biodiversität in den Städten: Der Verlust von Bäumen durch Dürrestress und die Folgeschäden wie Erkrankungen ist massiv, und auch wenn zwischendurch Erholung teilweise möglich ist, ist die Vegetation in Berlin schon heute erheblich geschwächt. Damit ist ein wesentliches Element des urbanen Hitzeschutzes und der natürlichen Schadstoffreduktion in der Stadt akut gefährdet.

In einem Land wie Deutschland, in dem die kulturelle Bindung zum Auto, dem "Kraftfahrzeug", so ausgeprägt ist, sind Veränderungen im Straßenraum schwer durchsetzbar. Dabei hat dieser Raum – zumal im urbanen Kontext – mindestens drei Aufgaben: Er dient der Mobilität, er ist ein ökologischer und sozialer Raum.

Konkrete Visionen und Narrative, wie unser Stadtraum sein könnte, finden bisher wenig konstruktive Aufmerksamkeit. Sie werden kaum debattiert. Die Entfremdung von der Natur ist so weit verbreitet, dass negative ökologische Veränderungen in der Stadt wenig wahrgenommen werden, was wiederum kaum Handlungsmotivation erzeugt.

Ohne zivilgesellschaftlichen Druck passiert wenig

Auch vielerorts knappe Mittel und fehlendes Personal bei den Behörden verhindern gegenwärtig Vorhaben zur klimaresilienten Stadtentwicklung. So müssten Straßen nach dem Paradigma der "Schwammstadt" großflächig entsiegelt werden. Das würde eine enorme Reduktion des motorisierten Individualverkehrs und eine Neuverteilung der Flächennutzung erfordern.

Ohne zivilgesellschaftlichen Druck passiert oft gar nichts. Wir sind schlecht vorbereitet auf das, was auf uns zukommt. "Das Überleben unserer Zivilisation hängt davon ab, ob wir es schaffen, uns in wirkungsvollen und starken Gruppen zu organisieren", sagt Nick Osborne von der Transition-Town-Bewegung.

Der schöne Planacker. (Bild: Cléo Mieulet)

Es ist daher ratsam, Beispiele genauer zu betrachten, bei denen die Zusammenarbeit öffentlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure gelingt.

Im Graefekiez, einem Quartier im Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin, tat sich in den letzten Jahren einiges im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation im öffentlichen Raum: Mehrere große Grünflächen sind aufgewertet worden, Wildblumenwiesen ersetzen die oft ungepflegten und im Sommer verdorrten Rasenflächen.

Erste Regenwasserauffangtonnen zieren die Bürgersteige. Über 40 Parkplätze wurden entsiegelt und zu Gemeinschaftsgartenflächen umgewandelt, etliche weitere sind mit Parklets bestückt worden, die Sitz- und Pflanzgelegenheit bieten.

Weitere Parkplätze wurden in Mobilitätsstationen umgewandelt, an denen Miet-Fahrräder, -Roller und -Autos Platz finden. Die erste temporäre Spielstraße in der Stadt verwandelt regelmäßig eine ganze Straße in einen großen Spielplatz. Vor der Quartiers-Grundschule fand ein Garten-Klassenzimmer Platz. 

Wechselspiel von Bürger:innen und Behörden

Schon um 2015 herum hatten sich einige Menschen im Quartier der Baumscheiben angenommen, sie bepflanzt und mit Bänken eingerahmt. Das sorgte für eine neue Aufenthaltsqualität und allererste Wirksamkeitserfahrungen.

Erst wehrte sich der Bezirk dagegen, aber bald wurde eine Baumscheibenverordnung verfasst und so das Handeln der Bürger:innen legitimiert und sanktionssicher gemacht.

Bänke bauen im Graefekiez. (Bild: Cléo Mieulet)

Später organisierte die Nachbarschaft sich weiter und fragte beim Straßen- und Grünflächenamt an, ob die Neugestaltung einer größeren Fläche möglich wäre. Gefragt, getan.

Im Austausch mit den staatlichen Akteuren entstanden weitere Flächen, es etablierte sich ein Wechselspiel zwischen Basisakteuren und Behörden. 2019 wurde die erste temporäre Spielstraße ins Leben gerufen, ein Meilenstein zur Einführung und Entwicklung des Kiezblock-Konzepts.

Später regten ungenehmigt umgewidmete Parkflächen (sogenannte Platzparks) die Aufstellung offizieller Parklets an. Zwischen Nachbarschaft und Verwaltung entstand eine Diskursgrundlage zum Thema Entsiegelung.

Entsprechende Beschlüsse der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg sowie die wissenschaftliche Begleitforschung des Projekts Graefekiez um das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) trugen dazu bei, zielgerichtet weitere Pionierschritte zu gehen. 

Derweil professionalisiert sich die Nachbarschaft immer weiter und stellt Anträge für das Aufstellen von Regenwassertonnen und Containern für das Lagern von Gartengerät und weiteres.

Auch hier nimmt der Bezirk die lokalen Impulse auf, versieht experimentelle Vorhaben wie eine Regenwasserzisterne mit einem Duldungsstatus, um nach Prüfung die rechtliche Verstetigung zu ermöglichen.

Bild: Sebastian Höhn

Cléo Mieulet

nennt sich selbst Resilienz­agentin, sie hat Politik­wissen­schaft und Schau­spiel studiert und unter­stützt Nachbar­schaften im Aufbau zukunfts­fester Infra­strukturen. Sie entwickelt gesellschaftlich innovative Projekte mit und macht Öffentlichkeits­arbeit. Zurzeit ist sie aktiv bei Kiez­connect e.V. und der Kampagne "Sorge ins Park­center" und arbeitet an einer sozial-ökologischen Zukunft in der Gropius­stadt in Berlin.

So wurde beispielsweise 2023 von der BVV beschlossen, ein Prozedere zur Entsiegelung zu schaffen, das bürgerschaftliches Entsiegeln gestattet und rechtlich rahmt sowie eine Verfahrensweise dazu definiert.

Diese Veränderungen stoßen zugleich eine Entwicklung an, die Luftschadstoffe und CO2-Emissionen reduziert, das Stadtquartier "biodiverser" macht und die Aufenthaltsqualität im Freien deutlich steigert. Dies dient dem Katastrophenschutz, der Wasserrückhaltung bei Starkregen, aber auch bei Dürre, der Kühlung bei Hitzewellen, und schafft Raum für Begegnung.

Nicht zuletzt sind diese Erfolge für die Beteiligten identitätsstiftend und für Nachbarschaft und Besuchende sicht- und spürbar. Wo sonst lassen sich mitten in der Stadt Libellen beobachten?

Welche Faktoren haben Veränderungen ermöglicht?

Um das gesellschaftliche Handeln im Kontext des sozial-ökologischen Wandels zu analysieren, bietet sich das Modell von Erik Olin Wright an, bekannt als "Modes of Transformation", das von Burckhardt, Nowshin, Schmelzer und Treu erweitert wurde. Die Autoren arbeiten mit vier Kategorien gesellschaftlichen Tuns, die bestimmten Akteuren zugeschrieben werden können:

  • präfigurativ: praktisches Schaffen, konkret – Praktiker:innen
  • kommunikativ: forschend, informierend – Wissenschaft, NGOs, Journalist:innen
  • opponierend: ziviler Ungehorsam, Demonstrationen – Aktivist:innen, Aktive
  • reformativ: institutionelle Transformation – NGOs, Parteien

 

Im Graefekiez war das Engagement aller Gruppen nachzuvollziehen. Dabei waren die verschiedenen Vorgehensweisen eng verwoben, ihr Wirken und ihre Erfolge voneinander abhängig. Sei es die Selbstorganisation der Nachbarschaft des Graefekiezforums bei der Organisation neuer Pflanzflächen und Spielstraßen – oder die Kommunikation mit wissenschaftlichen Einrichtungen und die Zusammenführung von Best Practices durch Vereine wie Kiezconnect.

Neben den disruptiven "Platzparks" und selbstermächtigter Entsiegelung durch Bürger:innen im zivilen Ungehorsam gab es reformerische Schritte wie eine Unterschriftensammlung für einen Kiezblock oder das Erlassen neuer Verordnungen durch Bezirk und Ämter.

Akteursvielfalt und -interaktion sorgen für Dynamik

Im realen Kontext ist im Gegensatz zum schematischen Modell eine eindeutige Zuordnung eines Akteurs meist nicht einfach, die trennscharfe Kategorisierung unterschlägt fließende Übergänge und situative Veränderungen der Akteurskonstellationen. Dennoch können solche Modelle nützlich sein, um in der "Choreografie" der Akteursvielfalt Möglichkeitsfenster für Veränderungen zu finden.

Beispielhaft lassen sich einige Handlungsweisen im Graefekiez so zuordnen:

  • präfigurativ: Selbstorganisation zur Schaffung und Pflege der Wildblumenwiesen, Spielstraße, Regenwasserzisternen im Straßenraum
  • kommunikativ: Interaktion Nachbarschaft–Exekutive, zivilgesellschaftliche Akteure wie Changing Cities, Forschung
  • opponierend: Platzparks (als Geburtshelfer der Parklets), ungehorsame Entsiegelungsaktion (die auch zur Entsiegelungsverordnung verhilft)
  • reformativ: neue Verordnung in Friedrichshain-Kreuzberg zum Entsiegeln, Duldung von Regenwassertonnen

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität.

Vereinte Kräfte für neue Normen

Was in dieser "Kategorisierung" nicht beleuchtet wird, sind die verschiedenen Machtpositionen der Beteiligten und ihr Verhältnis untereinander. So war das Erreichen neuer Projektphasen häufig von "ausreichend mächtigen" oder anderweitig legitimierten Akteuren abhängig, die ihr Engagement jedoch ihrerseits einer entsprechenden Wegbereitung durch Graswurzelaktivitäten verdankten.

So konnte beispielsweise trotz vielfachem Drängen der Nachbarschaft die umfangreiche Entsiegelung von Parkplätzen erst durch Legitimierung in Form der Begleitforschung durch das WZB erfolgen.

Das führt dann zu einer neuen Stufe der Anerkennung – und gleichzeitig zu einer neuen Phase in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung rund um die betreffenden Themen wie zum Beispiel die Frage einer starken Ausweitung der anvisierten Maßnahmen. Oft ist es gerade diese Skalierung, die die Gegnerschaft von Veränderung auf den Plan ruft und sich formieren lässt. 

Verwaltung ist auf Zivilgesellschaft und aktivistisches Handeln angewiesen 

Politik und Verwaltung sind angesichts der Herausforderungen auf den Einsatz einer engagierten Stadtgesellschaft angewiesen, sei es bei der Vermittlung von Vorhaben und deren Relevanz, bei der Definition konkreter Forderungen und Maßnahmen oder schließlich mit schlichter Arbeitskraft bei der Umsetzung. Dass im Graefekiez auch ziviler Ungehorsam initial und zur Umsetzung notwendig war, lässt sich schwerlich bestreiten. Daher ist diese Handlungsweise auch legitim.

Oft werden ja ziviler Ungehorsam und ziviles Engagement, also opponierender und praktischer Aktivismus, als Gegensatz verstanden. Viele tendieren dazu, sich nur mit einer dieser Handlungsweisen einverstanden zu erklären, sodass der Begriff Aktivismus eher für Protest steht, während das Aufbauen von Neuem gerne als Engagement bezeichnet wird.

 

Mittlerweile gibt es aus der Sozialwissenschaft und der Geschichtsforschung aber gesicherte Erkenntnisse darüber, wie disruptives Handeln Veränderung bewirkt. So kann selbstermächtigender Protest im Gegensatz zur nicht selten unglücklich verlaufenden Bürgerbeteiligung einen Diskurs anstoßen, der wiederum Veränderung ermöglicht. Er ist dabei als Teil sozialen Wandels zu betrachten und taktisch als eine ergänzende Handlungsweise anzusehen, um Fortschritt zu initialisieren.

Das Beobachtete legt nahe, dass Fortschritte nur mit allen vier Vorgehensweisen der Transformation erreicht werden. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass diese verschiedenen Handlungsweisen allesamt legitim und notwendig sind.

Ein weiterer Gewinn dieser Sicht liegt darin, dass die Transformationsgewillten ihre jeweilige Funktion leichter erkennen und so taktisch aufeinander Bezug nehmen können, um sich gemeinsam den Veränderungsaufgaben hin zur Resilienz für alle zu stellen.

Weitere Einsichten aus der Beobachtung der Geschehnisse im Graefekiez

  • Parkraum-Entzug ohne Parkraumbewirtschaftung ist eine unglückliche Kombination. Zur Akzeptanz der Veränderungen wäre die Einrichtung von Anwohnerparkplätzen sicher hilfreich.
  • Die beteiligten Engagierten sind sozial ziemlich homogen privilegiert. Engagement muss man sich leider leisten können. 
  • Es spricht einiges dafür, dass pragmatische Konvergenz, also ein zeitliches und räumliches Zusammenführen der Ziele bei den verschiedenen Akteuren, zum Erfolg führt.
  • Konsequent kollaborative Handlungsweisen sind unabdingbar zur Bewältigung der gigantischen Transformationsaufgaben, die uns als gesamte Gesellschaft bevorstehen.
  • Politik muss Bürger:innen vertrauen (und Bürger:innen müssen sich selbst vertrauen, organisieren, artikulieren). Es braucht ein neues Bild der Bürger:innen als Stadtgestaltende, zur Entwicklung neuer Beziehungen zwischen Bürger:innen und Verwaltung/Politik.
  • Selbstorganisation ist da erfolgreich, wo aus Selbstwirksamkeit (self-efficacy) Zugehörigkeit (ownership) entsteht: Der Raum wird kollektiv angeeignet zum Wohle aller. Das erzeugt Ermächtigung (empowerment) und schafft weitere Impulse für den Wandel.
  • Transformation muss nicht teuer sein. Unter den Infrastrukturmaßnahmen sind das Entsiegeln, das Zugänglichmachen von Wasser oder horizontale wie vertikale Begrünung nicht die teuersten. Der Arbeitsaufwand ist erheblich höher als die Sachkosten und kann bei kooperativer Herangehensweise kostengünstig gehalten werden, wenn zivilgesellschaftliche, staatliche und privatwirtschaftliche Akteure zusammenarbeiten.
  • Wir möchten unsere Nachbar:innen kennen, wenn die Zeiten schwer werden (und sie werden es). Dies ist das Fundament auch für weitere Veränderungen in unserer Alltagsinfrastruktur und Kultur.

Die Stärkung der persönlichen, gemeinschaftlichen und ökologischen Widerstandsfähigkeit in der Nähe des Wohnortes wird immer wichtiger werden. Die Straße wird in einer solchen Perspektive zum erweiterten Wohn- und Lebensraum und wandelt sich dabei zum Commons, zum Gemeingut, das alle mitgestalten. 

Dieses Gemeingut dauerhaft zu erhalten und auszubauen, kollaborative Praktiken zum Resilienzaufbau alltäglich zu machen und sich mit den jeweiligen Mitteln für sie einzusetzen, ist Aufgabe unserer Zeit. Sie erfordert ein Verständnis für die Notwendigkeit und Bereitschaft zu Pragmatismus und Konvergenz.

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