Wer sich die 50 Milliarden Euro teure Einigung von Bund und Ländern vergangene Woche zum Kohleausstieg genauer ansah, fragte sich, wo denn das Jänschwalder "Wunderkraftwerk" geblieben ist.
Im ursprünglichen Kohlekompromiss vom Januar 2019 gab es nämlich eine Festlegung, wonach der Braunkohlesektor um das Jahr 2025 herum in einem "Zwischenschritt" rund zehn Millionen Tonnen CO2 jährlich einzusparen hat. Wie und womit das geschehen sollte – davon stand kein Wort im Abschlussbericht der Kohlekommission, die ja eigentlich mit dem Kürzel WSB unterwegs war: Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung.
Nach mehreren Nachfragen bei der brandenburgischen Landesregierung stellte sich damals heraus: Hinter dem "Wunderkraftwerk" steht die im Grunde nicht so schlechte Idee, die Wärme, aus der ein fossiles Kraftwerk den Strom macht, nicht mehr durch Braunkohle, sondern auf erneuerbarer Basis zu erzeugen.
Nicht wenige hielten das allerdings für ein Potemkinsches Dorf, das nur deswegen im Kohlekompromiss stand, damit die nötigen CO2-Einsparungen irgendwie erreicht werden. Und die Überraschung war gleich null, als man nun in der Bund-Kohleländer-Einigung lesen durfte, dass am Standort Jänschwalde auf die Braunkohle ein Gaskraftwerk folgen soll.
An die Geschichte mit dem "Wunderkraftwerk" erinnerte sich heute auch der Präsident des Umwelt-Dachverbandes DNR, Kai Niebert, als er in Berlin die am Morgen bekannt gewordene Stellungnahme mehrerer Verbände und Experten zum Bund-Länder-Deal vorstellte. Obwohl er schon damals nicht an Wunder geglaubt habe, hätten er und die anderen Umweltverbände den Kohlekompromiss mitgetragen – wenn auch mit großen Bauchschmerzen.
Knackpunkte Braunkohle, Datteln und Hambach
Als er vor Jahresfrist der Umweltbewegung den Kohlekompromiss vorgetragen habe, sei ihm "blankes Entsetzen" entgegengeschlagen, bekannte Niebert am heutigen Dienstag. Für alle wäre deswegen nur eine Eins-zu-eins-Umsetzung des Kompromisses infrage gekommen. Das Ergebnis der Bund-Länder-Einigung sei jedoch ein "gänzlich anderes", erklärte die ehemalige Kommissionsvorsitzende Barbara Praetorius, neben Niebert sitzend.
Das "gänzlich andere" speist sich aus Sicht der acht Unterzeichner der Stellungnahme vor allem aus drei Gründen, wie Praetorius erläuterte. Erstens weiche der Stilllegungspfad für die Braunkohle "erheblich" von den Empfehlungen der Kommission ab, dementsprechend sinke auch der Klimabeitrag "erheblich". Sowohl das Pariser 1,5-Grad-Ziel als auch das deutsche Klimaziel werde so verfehlt.
Aus gutem Grund habe die Kohlekommission zweitens empfohlen, keine neuen Kohlekraftwerke ans Netz zu nehmen. Die Inbetriebnahme von Datteln 4 sei deswegen das "völlig falsche Signal". Das könne man niemandem als Klimabeitrag vermitteln, weder in Deutschland noch gegenüber dem Ausland.
Drittens, so Praetorius, sei "völlig inakzeptabel", dass die Zerstörung von Dörfern durch Tagebaue weitergehe und auch der Hambacher Wald nur teilweise verschont werde. "Dieses Ergebnis schadet nicht nur dem Klimaschutz, sondern auch dem gesellschaftlichen Klima", erklärte die Wissenschaftlerin. Leichtfertig werde ein vereinbarter gesellschaftlicher Frieden verspielt.
Politik ignoriert bei Versorgungssicherheit eigene Warnungen
Dass man in dem auch energiepolitisch austarierten Kohlekompromiss nicht wie auf einem Schachbrett Kraftwerke einfach hin- und herschieben kann, verdeutlichte Felix Christian Matthes, der als Energieexperte in der Kohlekommission saß.
Für ihn ist der Ausstiegspfad für die Braunkohle der "zentrale klimapolitische Knackpunkt" des Kohlekompromisses. Weiche man davon ab und wolle das – wie von Bund und Ländern geplant – kompensieren, indem ein paar Steinkohlekraftwerke früher stillgelegt werden, könne es nicht ansatzweise gelingen, die negativen Klimaeffekte wettzumachen, erklärte Matthes.
Er kritisierte nicht nur, dass Bund und Kohleländer den "Zwischenschritt" von zehn Millionen Tonnen im Jahr 2025 gestrichen haben, sondern auch, dass die meisten Braunkohlekapazitäten erst kurz vor den Stichtagsjahren 2030 und 2038 vom Netz gehen sollen. Die Folge sei dann eine Art "wasserfallartiges" Abschalten der Braunkohle 2028/29 und 2037/38.
Dass man erst "nichts" tue und dann riesige Abschaltungen vornehme, so Matthes weiter, führe im Ergebnis zu Mehremissionen von rund 40 Millionen Tonnen CO2 jährlich sowie zu "starken Brüchen", die für den Strommarkt schwer zu verkraften seien. Bund und Länder würden damit eigene Warnungen vor einer gefährdeten Versorgungssicherheit in den Wind schlagen. Das sei "unvernünftig".
Matthes erläuterte am Dienstag ein ums andere Mal, man könne später stillzulegende Braunkohle nicht einfach gegen zeitiger stillgelegte Steinkohle gegenrechnen – unter anderem deswegen, weil man, um bei den Emissionen die Wirkung von 1.000 Megawatt stillgelegter "alter" Braunkohle zu erreichen, um die 3.000 Megawatt Steinkohle vom Netz nehmen muss.
"Nach der Art von Hasardeuren"
Berücksichtige man außerdem, so Matthes, dass für das neue 1.100-Megawatt-Kraftwerk Datteln 4 auch deutlich mehr "alte" Steinkohle abgeschaltet werden muss, dann reiche die vorhandene "alte" Steinkohle gar nicht mehr aus, um all die zusätzlichen Emissionen auszugleichen, die durch das Abweichen vom Kohle-Kompromiss entstehen.
Der Energieexperte hält auch die in Aussicht gestellten Milliarden-Entschädigungen gerade für die Braunkohle für klimapolitisch kontraproduktiv, vor allem in Kombination mit den späten Abschaltterminen. Selbst bei einem hohen CO2-Preis im europäischen Emissionshandel, der den Braunkohlestrom in die Verlustzone bringe, könnten die Betreiber die Anlagen unbesorgt über Jahre weiterlaufen lassen – solange die Verluste kleiner seien als die Entschädigungszahlungen.
Die, so Matthes, "ins Fenster gestellten" Entschädigungen minderten die Wirkung des Emissionshandels. Das sei ein weiterer "Kollateralschaden" des Abweichens vom Kohlekompromiss.
Obwohl DNR-Präsident Niebert am Dienstag deutlich einen "Bruch" und "Verstoß" gegen den Kohlekompromiss anprangerte, steht er weiter hinter der Übereinkunft, wie er betonte. Allerdings ließ er seinem Ärger auch freien Lauf. Denn wie könne es sein, fragte er, dass man einen "mühsam ausgehandelten Kompromiss nach der Art von Hasardeuren den ostdeutschen Ministerpräsidenten zum Fraß vorwirft" und nun die ganze Kohledebatte von vorn losgehe. Er, Niebert, fühle sich "betrogen", und das auch von der Bundeskanzlerin.
Lesen Sie dazu unseren Kommentar: Spiel mit dem Kohle-Feuer