CDU-Wahlplakat mit der Aufschrift:
Das ist kein Plakat zum Krisengipfel 2019 in Berlin, sondern zur Landtagswahl 2012 in Kiel. (Foto: Christian Alexander Tietgen/​Wikimedia Commons)

Strom hat einen Riesenvorteil: Er lässt sich beliebig und effizient einsetzen. Strom kann Motoren antreiben, über Wärmepumpen Häuser heizen oder Prozesswärme für Industriebetriebe erzeugen. Und erneuerbarer Strom verursacht dort, wo er in Wärme, Licht oder Bewegung umgewandelt wird, keine Emissionen. Zudem lässt er sich leicht transportieren.

Grüner Strom ist also ein durchaus geeigneter Energieträger für eine klimaneutrale Gesellschaft. Das sieht auch die Bundesregierung so und setzt bei Energiewende und Klimaschutz auf die Sektorenkopplung, die Verknüpfung des Stromsektors mit dem Gebäude- und Verkehrssektor. Anders gesagt: Der Verkehr wird auf Elektrofahrzeuge umgestellt, Häuser auf elektrische Wärmepumpen und Industrieprozesse auf Strom.

Damit die Strategie aber aufgeht, muss der wachsende Strombedarf aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Doch genau hier zeichnet sich eine große Lücke ab: Um auf einen klimaneutralen Kurs zu kommen, müssten in Deutschland jedes Jahr Windkraft- und Solaranlagen errichtet werden, die zusätzlich 20 bis 30 Milliarden Kilowattstunden erzeugen. Die derzeitige Stromproduktion liegt bei 650 Milliarden Kilowattstunden, daran haben erneuerbare Energien einen Anteil von 225 Milliarden Kilowattstunden.

Damit die zusätzliche Nachfrage für Verkehr und Gebäude sowie für die Industrie abgedeckt werden kann, müsste die Stromproduktion aus Erneuerbaren in den nächsten 30 Jahren um mindestens 600 bis 900 Milliarden Kilowattstunden erhöht werden.

Erneuerbaren-Ausbau müsste vervierfacht werden

Doch zwischen den anspruchsvollen Zielen und dem, was derzeit beim Zuwachs der Erneuerbaren tatsächlich passiert, klafft eine riesige Lücke von rund 75 Prozent.

Die Windenergie an Land gilt dabei als das Zugpferd der Erneuerbaren. Sie bestreitet derzeit knapp 50 Prozent der gesamten regenerativen Stromerzeugung. Doch das Zugpferd lahmt – oder, noch schlimmer, es siecht dahin.

Foto: Ö-quadrat

Dieter Seifried

studierte Energie- und Kraftwerks­technik in München und Volkswirtschafts­lehre in Freiburg. 1999 gründete er Ö-quadrat, ein Beratungs­büro für ökologische und ökonomische Konzepte in Freiburg, und ist dort seitdem Geschäftsführer. Zuvor war er Projektleiter beim Freiburger Öko-Institut.

Zu den bestehenden 29.200 Windkraftanlagen in Deutschland kamen im ersten Halbjahr 2019 gerade einmal 86 neue hinzu, 82 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Zieht man den Rückbau ab, ergibt sich ein Nettozubau an Land von lediglich 35 Anlagen mit einer Gesamtnennleistung von 231 Megawatt.

Bliebe es bei dem Tempo des Ausbaus bis Jahresende, könnten die neuen Windkraftanlagen dann nicht mal eine Milliarde Kilowattstunden erzeugen.

Bei der Windenergie auf See wird für 2019 mit einem Zuwachs der jährlichen Stromerzeugung um etwa zwei Milliarden Kilowattstunden gerechnet.

Bei der Solarenergie sieht es zwar etwas besser aus, aber auch hier wird für dieses Jahr ein Plus von höchstens drei Milliarden Kilowattstunden erwartet. Wasserkraft und Biogas werden voraussichtlich keine zählbaren Zuwächse erreichen.

Mit anderen Worten: Der derzeitige Ausbau der Erneuerbaren deckt nur etwa ein Viertel des eigentlich notwendigen Zuwachses ab.

Überall bremsen Politik und Behörden

Ein Grund für die Lähmung: Die Rahmenbedingungen für Windenergie haben sich durch Regelungen auf Bundes- und Landesebene massiv verschlechtert. Auch führte die zunehmende Klagewelle gegen Windprojekte dazu, dass der Ausbau der Windenergie auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2000 gefallen ist.

Werden die Erneuerbaren weiterhin durch Regierung, Behörden und Klagen ausgebremst, dann geht die angestrebte Sektorenkopplung nach hinten los: Statt weniger wird mehr CO2 ausgestoßen, weil der Mehrverbrauch an Strom durch Kohle- und Gaskraftwerke gedeckt werden muss. Elektroautos und Wärmepumpen sind dann keine Klimaretter, sondern Klimakiller.

Sebastian Albert-Seifried von der Freiburger Firma Ö-Quadrat.
Foto: Ö-quadrat

Sebastian Albert-Seifried

ist Physiker und promovierte in Cambridge mit Solarzellen-Forschung. Bei Ö-quadrat leitet er den Bereich energie­sparende Haushalts­geräte. Zuvor arbeitete er bei der Unternehmens­beratung Deloitte.

Daraus folgt: Die Bundesregierung muss sofort alles Mögliche tun, um den Ausbau der Erneuerbaren wieder in die Spur zu bringen. Sie muss gegen unsinnige Auflagen der Deutschen Flugsicherung ebenso vorgehen wie gegen Naturschutzregelungen, die im Einzelfall Vogel-Individuen schützen, aber auf längere Sicht – indem klimaschützende Windkraft verhindert wird – zu einem beschleunigten Artensterben führen.

Beispielsweise ist der Schutz des Rotmilans, eines Raubvogels, ein häufiger Grund, um die Genehmigung zum Bau einer Windanlage oder für deren Repowering zu verweigern. Hat sich ein Rotmilan im Umfeld einer Anlage angesiedelt und fühlt sich dort wohl, kann diese Anlage nicht gegen eine größere, leistungsstärkere und klimaschonendere ersetzt werden, weil dies den Vogel gefährden könnte.

Tatsächlich aber ist ein Vogelschlag weniger wahrscheinlich, weil die neue, größere Anlage einen wesentlich höheren Turm besitzt und sich damit die Bahnen von Rotmilan und Rotor-Flügeln nicht mehr so stark kreuzen, denn der Rotmilan fliegt auf Futtersuche meist in einer Höhe von weniger als 50 Metern.

Artenschutz muss sein, aber ohne erneuerbare Energien werden viele Arten aussterben.

Krisengipfel zur Windenergie

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat für den 5. September nach Berlin zu einem "offenen Gespräch mit der Windenergiebranche, Verbänden und Vertreterinnen und Vertretern der Länder" eingeladen. Zu den 50 Teilnehmern sollen 13 Landesminister sowie Vetreter verschiedener Verbände gehören, darunter sechs Anti-Windkraft-Initiativen. Auch einige wenige Unternehmen sollen vertreten sein.

Neben der Beseitigung einzelner Hemmnisse gilt es, die Rahmenbedingungen für die Erneuerbaren insgesamt zu verbessern. Das im Jahr 2000 eingeführte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) hat den Zubau über einen Zeitraum von 13 Jahren gut vorangebracht.

Inzwischen bremsen jedoch die Ausschreibungsverfahren den Zubau – ganz im Sinne von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Der ist angetreten, die Kosten des EEG zu begrenzen – und wenn es das Klima kostet.

Anzeige