Protestwanderung Lausitz
In Brandenburg fordern Umweltschützer von der rot-roten Regierung Woidke immer wieder Konzepte zum Strukturwandel. (Foto: Markus Pichlmaier/​ideengrün)

Klimareporter°: Herr Freytag, Anfang der 1990er Jahre kamen Sie nach Brandenburg und waren lange Zeit Chef des Landesbergamtes. Auch andere entscheidende Lausitz-Akteure – so der ehemalige IG-BCE-Funktionär und SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Freese – kamen aus dem Westen. Zudem wurde 1990 mit dem Stromvertrag die Braunkohlewirtschaft westdeutschen Energiekonzernen übereignet. Hatte die Lausitz nicht von Anfang an das Problem, dass immer andere Interessen dominierten und nie die der Region selbst?

Klaus Freytag: Möglicherweise muss man sich rückblickend fragen, ob es 28 Jahre nach der Einheit nicht an der Zeit ist für eine ehrliche, tabulose und auch individuelle Aufarbeitung. Da würde ich mich gern einbringen. Denn vieles ist in der Vor- und Nachwendezeit – im Übrigen in West und Ost – schiefgelaufen. Ich selbst bin seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Herz und Seele Lausitzer. Meine Familie lebt hier, unsere vier Söhne sind hier geboren.

Was die Dominanz von "anderen" Interessen betrifft: Ich habe über die Jahre festgestellt, dass die Lausitzer sehr selbstbewusst sind. Das beweisen schon allein die vielen Initiativen, Vereine und auch Unternehmen, die Ideen für die Zukunft ihrer Region entwickeln.

Ob die Totalprivatisierung der Ost-Stromwirtschaft so notwendig war, da gehen die Meinungen weit auseinander.

Darüber habe ich schon mit dem ehemaligen Brandenburger Wirtschaftsminister Ralf Christoffers offen diskutiert. Müsste so ein Sektor der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht in staatlicher Hand sein? Die Franzosen haben das ja auch so gemacht.

Es gab aber im Osten auch Persönlichkeiten wie Klaus-Ewald Holst, der das zum Kombinat Schwarze Pumpe gehörende Gasnetz herauslöste und mit seiner Verbundnetz Gas AG einer der erfolgreichsten Unternehmer in Sachsen nach der Wende wurde. Holst war vor und nach 1990 ein genialer Industriekapitän.

Die Ende der 90er Jahre wackelnde Braunkohleindustrie und deren Kraftwerke wurden erfolgreich durch Vattenfall aufgefangen.

Aber auch Vattenfall dachte nur daran, Braunkohle zu Strom zu verbrennen. Das berühmte Fischer-Tropsch-Verfahren von 1925, mit dem vor 1990 die Ost-Braunkohle in chemische Grundstoffe verwandelt wurde, feiert nun nicht mehr in der Lausitz Auferstehung, sondern in den alten Bundesländern.

Gemach: Als ich 1992 aus Köln in die Lausitz ging, erlebte ich auch, wie im rheinländischen Hürth der "Winkler-Vergaser" – ebenso eine Technologie, um die Kohle in Wasserstoff und Methan umzuwandeln – abgebaut wurde. Das Aus für die Vergasungstechnologie traf nicht nur den Osten.

Brandenburgs Landesregierung führt die Braunkohlevergasung aber als ernsthafte Option in ihrer Energiestrategie 2030 auf.

Zunächst sehe ich die technologische Kompetenz für die Kohlevergasung nach wie vor bei der Bergakademie Freiberg. Und von der Region her scheint mir für diese Technik das Revier Halle/Leipzig mit der dortigen Kohlechemieindustrie geeigneter zu sein als die Lausitz.

Zur Person

Klaus Freytag ist seit Juni dieses Jahres Lausitz-Beauftragter der brandenburgischen Landesregierung. Im Gespräch legt er Wert auf die Feststellung, dass er 1993 aus eigenem Antrieb und nicht, weil ihn irgendeine Verwaltung entsandte, aus dem Rheinland nach Brandenburg kam. Als langjähriger Chef des Landesbergamtes (2004 bis 2015), das umstrittene Entscheidungen zu den Braunkohle-Tagebauen traf, und anschließend als Energie-Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium gehört Freytag zu den zentralen politischen Akteuren in Brandenburg, trat aber in der Öffentlichkeit bisher zurückhaltend auf.

Für die stoffliche Nutzung der Braunkohle halte ich einige Projekte für sehr interessant, wie zum Beispiel, in einem Drehrohrofen Koks herzustellen. Mit diesem kann man dann Kraftwerksabgase filtern oder Wasser reinigen. Dieses Projekt wird konkret von einem industriellen Partner in Brandenburg verfolgt.

Sicher, manche träumen davon, die Vergasung als neues Standbein der Braunkohle zu entwickeln. Diese Erwartungen dämpfe ich.

Die Frage ist ja: Lässt sich ein Tagebau wirtschaftlich betreiben, wenn man nur noch Kohle zur Vergasung oder stofflichen Nutzung herausholt und nicht mehr Abermillionen Tonnen?

Nehmen wir das Verkokungsprojekt. Da geht es um 100.000, vielleicht 200.000 Tonnen Braunkohle im Jahr. Die stoffliche Nutzung bewegt sich damit in homöopathischen Dosen, verglichen mit den heute im Revier geförderten rund 60 Millionen Tonnen im Jahr.

Bei 100.000 Tonnen bewegen wir uns in der Größe eines Kiesabbaus. Da kann ich natürlich nicht 70 Meter tief in die Erde graben, um an die Braunkohle zu kommen. Und auch eine kleine "Kiesgrube", mit der wir an die Braunkohle kommen wollen, wird uns große Probleme bereiten. Jedes Fleckchen Lausitzer Erde, mag es noch so trocken sein, ist geschützt oder anderweitig wertvoll.

Mit dem Ende der Verstromung ist die Kohlewirtschaft in der Lausitz definitiv am Ende?

Ja. Im geltenden Koalitionsvertrag auf Bundesebene steht das Wort "Abschlussdatum". Da steht zwar nicht Kohlenstoff-Ausstieg, aber von der Kohle, dem Stoff, der die Industriegesellschaft über Jahrhunderte geprägt hat, muss und wird man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt verabschieden.

Auch das Leag-Revierkonzept sieht ein Ende der Kohlegewinnung vor. Für mich bleibt die Lausitz dennoch Energieregion – aber das ist dann mit erneuerbaren Energien, also Energie 2.0.

Aus erneuerbaren Quellen kann sich Brandenburg derzeit rechnerisch schon zu etwa 80 Prozent mit Strom versorgen. Der größte Teil des Braunkohlestroms geht deswegen eigentlich in den Export. Ist ein Exportprodukt es wert, die Lausitz mit der Kohlewirtschaft und ihren Ewigkeitsfolgen so zu belasten?

Strom zu exportieren finde ich erst einmal gut und richtig. Jemand kauft ihn, am Ende stehen Wertschöpfung und Beschäftigung für die Region. Dass wir seit 1990 unseren Strom regional immer weniger verbrauchen, hat seinen Grund auch in der Deindustrialisierung. Früher mussten tausende Webstühle angetrieben werden und die vielen Industriebetriebe brauchten sicheren Strom. Diese Abnehmer sind uns nach 1990 verloren gegangen.

Den Teil aber, den die Lausitz jetzt am deutschen Stromkuchen hat, will ich behalten und weiterhin jede zehnte Kilowattstunde in Deutschland liefern. Die wird in der Perspektive eines Jahres 20XX dann aber grün sein.

In der Kommission für "Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung" sind wir uns einig, dass wir für den Fall, dass lange kein Wind weht und keine Sonne scheint, eine solide konventionelle Stromversorgung brauchen. Und die muss in der Lausitz stehen und nicht in Bayern oder Baden-Württemberg. Die Lausitz ist dann nicht nur Energie-, sondern auch Energiesicherungsregion für Deutschland.

Ich lege übrigens großen Wert auf die korrekte Bezeichnung der Kommission, denn das häufig genutzte Kürzel "Kohlekommission" führt ins falsche Eck: Es geht um Entwicklung, die einhergeht mit dem Ausstieg, und eben nicht nur um das Ende der Kohleverstromung.

Mit einem drohenden "Blackout" wurde schon 1990 die Übernahme der Ost-Energiewirtschaft begründet. Auch 2000, als das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet wurde, malte man den "Blackout" an die Wand – nun wird dieser Pappkamerad beim Kohle-Ausstieg wieder hervorgeholt.

Den Bürgern zu sagen, wenn wir aus der Kohle aussteigen, dann gehen die Lichter in Deutschland aus – das ist meine Sache nicht. Mit dem Schüren von Angst hat man noch nie gute Politik gemacht. Die Sicherheit der Stromversorgung ist ein hohes Gut mit dem nicht gespielt werden darf. Deutschland ist Teil eines europäischen Stromverbundes, dieser Markt muss ausgebaut werden.

Wenn wir europäisch denken, dürfen wir aber auch keine Bauchschmerzen bekommen, wenn sich ein Elektron aus einem polnischen Steinkohlekraftwerk in unserer Steckdose wiederfindet. Am Ende des Tages kommen wir nicht umhin, nicht nur auf die Lausitz, auf Mitteldeutschland und das Rheinland zu schauen, sondern europäisch zu denken. Das ist die neue Energiewelt.

Wir in Brandenburg sind für eine Energiepolitik mit Augenmaß. Wenn 2023 der Atomausstieg vollzogen ist, bekommt die Braunkohle noch einmal eine wichtige Rolle für unsere Versorgungssicherheit. Aber die kann dann abnehmen, wenn wir den Netzausbau, den Ausbau der Speichertechnik und den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien vollzogen haben.

Für mich stellt sich der Kohle-Ausstieg nicht – wie "Agora Energiewende" es zeichnet – als abschüssige Rampe dar, sondern eher als eine Treppe, wo es mal eine Stufe weniger und mal eine Stufe mehr hinuntergeht. Ich plädiere vor allem in diesem Bereich für eine Politik auf Sicht. Wir sollten auf die nächsten drei bis sechs Jahre schauen und keine Debatten darüber führen, wie die Welt 2050 aussieht.

Die Debatte über Jahreszahlen des Kohleausstiegs ist doch eine Scheindebatte. Was will man damit sagen? 20XX sind wir raus aus der Kohle. Und dann? Wo bleiben die Menschen, wo werden sie arbeiten, lernen und leben? Das eine darf aus meiner Sicht nicht ohne das andere gedacht und proklamiert werden. Sonst machen wir uns was vor.

Lesen Sie hier Teil 2 des Interviews: Kohleausstieg – zweite Chance für die Lausitz

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