Aufnahme des Whanganui River, der vom neuseeländischen Parlament zur juristischen Person erklärt wurde.
Der Whanganui River ist der drittlängste Fluss Neuseelands. 2017 wurde er vom neuseeländischen Parlament zur juristischen Person erklärt. (Foto: Felix Engelhardt/​Flickr)

Familie Backsen klagt gegen die Bundesregierung. Diese tue nicht genug, um das deutsche Klimaziel für das Jahr 2020 noch zu erreichen. Das gefährde die Lebensgrundlage der Backsens, einen Biobauernhof auf der Nordseeinsel Pellworm. "Der ansteigende Meeresspiegel macht mir große Sorgen, denn die Deiche können irgendwann nicht mehr erhöht werden", erklärt Silke Backsen.

Ähnliche Klagen gibt es mittlerweile viele: Kinder klagen gegen die USA, Seniorinnen gegen die Schweizer Regierung und ein peruanischer Bergbauer gegen den Energiekonzern RWE.

Doch warum klagt das Klima eigentlich nicht selbst? Der Grund ist simpel: Im Gegensatz zu RWE, Deutschland oder den Backsens ist das Klima keine Rechtsperson und hat folglich keine Rechte.

Aber das muss nicht so bleiben. Mittlerweile gibt es Flüsse, Wälder und Berge, die eine eigene Rechtsperson darstellen.

Vorreiter war das 7.000-Seelen-Dorf Tamaqua im US-Bundesstaat Pennsylvania. Dort brachten Bauern übelriechenden und giftigen Klärschlamm auf ihren Feldern aus. Daraufhin wurden "Rechte der Natur" in der Gemeindeordnung verankert und das Ausbringen von Klärschlamm wurde als Verletzung dieser Rechte verboten.

Vor zehn Jahren gaben sich dann Ecuador und wenig später Bolivien neue Verfassungen und Gesetze, um die Benachteiligung der indigenen Bevölkerungsmehrheit zu beenden. Das Prinzip vom "guten Leben", spanisch Buen vivir, fand Eingang ins Recht. Gleichzeitig wurde die Natur – oder "Mutter Erde", wie es in Bolivien heißt – als Rechtsperson anerkannt.

Ureinwohner schreiben Rechtsgeschichte

Etwas später zog Neuseeland nach. Dort sind nun ein Wald, ein Fluss und ein Berg ihre eigene Rechtsperson. Das hat drei Konsequenzen: Der Wald, der Fluss und der Berg können vor Gericht als Kläger auftreten. Außerdem können sie Verträge abschließen. Und schließlich haben sie das Recht, Eigentum zu besitzen. Damit besitzen sie sich selbst und gehören nicht länger dem neuseeländischen Staat.

Die Gesetze, die dies ermöglichen, stützen sich auf das Rechtsverständnis der Ureinwohner Neuseelands, der Maori. Mit Bezug auf den Whanganui River schreibt die Juristin Erin O'Donnell im Wissenschaftsmagazin Ecology and Society: Die Regelung "nähert sich der Weltsicht der Whanganui Iwi im Gesetz an. Sie erkennt den Fluss als lebendes Ganzes an, das vom Berg bis zum Meer reicht".

Das Gesetz berücksichtigt auch die spirituelle Bedeutung, die der Fluss für den lokalen Maori-Stamm hat. Die Whanganui Iwi machen keinen Unterschied zwischen sich und dem Fluss: "Ich bin der Fluss und der Fluss ist ich" (Ko au te awa, ko te awa ko au).

Vertreten wird der Fluss von zwei Sprechern: Der eine wird von Neuseelands Regierung ernannt und der andere von den Whanganui Iwi. Die Sprecher sind dazu verpflichtet, im Interesse des Wohlergehens des Flusses zu handeln.

Dabei werden sie von einem Rat unterstützt, in dem alle anderen Interessengruppen vertreten sind: vom Fremdenverkehrsverein über Umweltorganisationen bis zur Firma Genesis Energy, die über 80 Prozent des Flusswassers in ihrem Wasserkraftwerk nutzt.

Klagebefugnis für Bäume

Um die Handlungsfähigkeit des Flusses sicherzustellen, hat dieser zudem Geld von Neuseeland erhalten. Der Fluss begann seine neue Existenz als eigenständige Rechtsperson mit einem Fonds in Höhe von 30 Millionen neuseeländischen Dollar, umgerechnet knapp 18 Millionen Euro.

Damit hat Neuseeland eine Forderung des Rechtsprofessors Christopher Stone erfüllt. Dieser schrieb im Jahr 1972 in einem Artikel mit dem Titel "Should Trees Have Standing?" (Sollten Bäume Klagerecht haben?): "Ich schlage vor, dass wir Wäldern, Meeren, Flüssen und anderen 'Objekten der Natur', ja der ganzen natürlichen Umwelt, formelle Rechte gewähren."

Anlass für Stones Vorschlag war ein Prozess vor dem Obersten Gerichtshof der USA. Dieser sollte entscheiden, ob die Naturschutzorganisation Sierra Club die Befugnis hat, gegen den Bau eines Skigebiets auf Land im Bundesbesitz zu klagen. Der Oberste Gerichtshof verneinte dies mit der Begründung, die Interessen des Sierra Club würden durch das Skigebiet nicht beeinträchtigt.

Doch ein Richter widersetzte sich dem Konsens seiner Kollegen und ging weit über die Forderung der Naturschützer hinaus. William Douglas schrieb in einem Minderheitsvotum: "Objekte der Umwelt sollten die Befugnis haben, für ihren eigenen Schutz zu klagen."

Rechte der Natur per EU-Gesetz

Dieses Ziel verfolgt in der EU die britische Umweltorganisation Nature's Rights. Sie bereitet zurzeit einen Vorschlag für eine neue EU-Richtlinie vor. In deren Entwurf steht nicht nur, dass die Natur als Rechtsperson anerkannt wird, sondern auch, dass die Natur "fundamentale Rechte hat, die aus ihrer inhärenten Würde als Quelle des Lebens herrühren".

Die Natur ist damit nicht länger ein Objekt, dessen Wert sich einzig an seiner Nützlichkeit für den Menschen bemisst, sondern ein Subjekt mit einem Eigenwert. Der Natur wird folglich das "Recht auf Leben" zugesprochen sowie das "Recht, die Integrität der natürlichen Kreisläufe zu bewahren".

Werden diese Rechte verletzt, sollen Regierungen, Umweltorganisationen, aber auch jeder einzelne EU-Bürger die Möglichkeit erhalten, im Namen der Natur zu klagen.

Sollte dieser oder ein ähnlicher Vorschlag zu EU-Recht werden, müsste die Familie Backsen nicht länger einen komplizierten rechtlichen Umweg nehmen. Sie müssten nicht mehr nachweisen, dass ihnen persönlich ein Schaden durch die nachlässige Klimapolitik der Bundesregierung droht und sie daher klagebefugt sind. Das Klima könnte vielmehr direkt gegen die Bundesregierung klagen mit den Backsens als Sprecher.

Dann ginge es auch nicht länger um Deiche und einen Bauernhof, sondern um den Kohlenstoffkreislauf der Erde: Indem die Bundesregierung zulässt, dass sich immer mehr CO2 in der Atmosphäre ansammelt, verletzt sie schließlich das Recht der Natur, ihre "Integrität zu bewahren".

Letztlich würde ein derartiges Rechtsverständnis wohl das Verhältnis zwischen Mensch und Natur grundsätzlich verändern. Christopher Stone sagt es so: "Wir könnten zu dem Punkt gelangen, wo wir die Erde als einen Organismus betrachten, von dem die Menschheit ein Teil ist – verschieden vom Rest der Natur, aber nur so verschieden wie das Gehirn eines Menschen von seiner Lunge."

Natur mit Rechten

Jahr Rechtsperson Land Rechtsgrundlage
2006 Ökosystem der Gemeinde
Tamaqua in Pennsylvania
USA Gemeindeordnung von Tamaqua
2008 die Natur Ecuador Verfassung von Ecuador
2010 Mutter Erde Bolivien Gesetz über die Rechte der Mutter Erde
2014 Te-Urewera-Wald Neuseeland Te-Urewera-Gesetz
2016 Río Atrato Kolumbien Urteil des Verfassungsgerichts von Kolumbien
2017 Whanganui River Neuseeland Te-Awa-Tupua-Gesetz
2017 Vulkan Taranaki Neuseeland Vertrag zwischen Neuseeland und Taranaki Iwi
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