Der Betrachter findet bei "Stella Polaris – Ulloriarsuaq" erleuchtete Gletscher und Eisberge: weiß, durchsichtig, bläulich schimmernd. Wie außerirdische Objekte stehen sie auf Geröll, schwimmen vor einer Schneelandschaft im Wasser und vor einem Nachthimmel, der wie ein Hintergrund aus Science-Fiction-Filmen wirkt – ein klarer Sternenhimmel mit grünem Polarlicht.
Viele Bilder sind ohne Zeichen menschlicher Zivilisation. Es sind Nahaufnahmen einer schwindenden Landschaft, die seit Hunderttausenden Jahren existiert und deren eingeschriebene Erinnerungen sich ins Meer ergießen werden.
"Stella Polaris – Ulloriarsuaq" ist keine gewöhnliche Ausstellung, obwohl sie alle Eigenschaften davon besitzt. Sie hat eine Botschaft, eine sehr konkrete, sie will den Klimawandel in die Herzen der Menschen tragen. Es wird kein Werk eines einzelnen Künstlers gezeigt, sondern es ist ein Lichtkunst-Projekt um die Fotografin Nomi Baumgartl, den Fotografen Sven Nieder, den Filmemacher Yatri N. Niehaus sowie Laali Lyberth, die aus Grönland stammt und das Projekt koordiniert.
Neben den Fotografien gibt es einen Dokumentarfilm von Niehaus, der Baumgartl und Nieder während ihrer Aufnahmen des schmelzenden Eises begleitet und dabei die Landschaft, die Kultur der Menschen vor Ort sowie die Intention der Botschaft einfängt.
Die Idee zum Projekt entstand bereits 2009, als sich Nomi Baumgartl und Sven Nieder auf Grönland trafen, jeder gerade an einem eigenen Projekt arbeitend, so erzählt es Nieder bei der Eröffnung der Ausstellung Ende April im Berliner Willy-Brandt-Haus.
Die Unmittelbarkeit des Klimawandels auf Grönland, die nicht zu übersehende Veränderung der Gletscher und die Begegnung mit Angaangaq Angakkorsuaq, einem Schamanen und Ältesten der Eskimo-Kalaallit aus Grönland, hätten beide dazu inspiriert, das schmelzende Eis nicht als Zeugnisse einer Katastrophe aufzunehmen, sondern als Dokumente einer sich verändernden Landschaft, deren Schönheit herausgestellt wird.
Die Bilder sollen berühren, aber nicht ängstigen, sie sollen eine Verbindung schaffen, kein Szenario.
Ungehörte Botschaft
Auf Angakkorsuaqs Geschichte beruht die Botschaft, die Ausstellung und Film innewohnt. Als Mentor des Projekts ist der Schamane am Eröffnungsabend anwesend. Seine Geschichte beginnt er im Jahr 1963, als "Jüngere" beim Jagen entdeckten, dass aus der "großen Wand" – einer damals etwa 1,5 Kilometer hohen Gletscherwand – Wasser austrat, und das bei einer Temperatur zwischen minus 35 und minus 60 Grad Celsius.
Im Gletscher musste das Wasser schon damals mit solch einer Geschwindigkeit geflossen sein, dass es nicht gefror. "Das war der Beginn dessen, was Sie als Klimawandel kennen", sagt Angakkorsuaq in Berlin. Den Ältesten sei klar gewesen, dass diese Veränderung Folgen für die ganze Welt haben würde. So wurde er als Bote berufen, um der Welt zu berichten, was in Grönland passiert: dass "das große Eis schmilzt".
Sein Auftrag ist einfach und dennoch kompliziert. Schon 1963 trug er die Botschaft vor den Vereinten Nationen in New York vor, viele weitere Einladungen folgten. Inzwischen hat er in über 60 Ländern vor Millionen Menschen gesprochen.
Als Angakkorsuaq in den 70er Jahren von einer seiner Reisen zurückkehrte, fragte sein Vater ihn jedoch, ob er gehört worden sei. Er bejahte: Man habe sogar applaudiert. Sein Vater wiederholte die Frage und ihm wurde in diesem Moment klar, dass seine Nachricht nicht gehört worden war. Noch im selben Jahrzehnt sagten die Ältesten dann, es sei zu spät, das Schmelzen zu stoppen.
Ein weiteres Mal, als Angakkorsuaq aufgeben wollte, weil seine Botschaft nicht gehört wurde, wurde er von seiner Mutter angehalten weiterzumachen; er müsse noch mehr mit den Menschen sprechen. Ihre Worte sind diejenigen, die dem Projekt die Botschaft geben:
"Sohn, du musst lernen, das Eis in den Herzen der Menschen zu schmelzen! Nur indem wir das Eis im Herzen des Menschen schmelzen, hat der Mensch die Chance, sich zu ändern und sein Wissen weise anzuwenden."
Am Ende seiner Ansprache erklärt Angakkorsuaq, er sei der letzte Bote. Er sei viel gereist, niemand habe die Nachricht wirklich gehört. Er gebe die Rolle weiter an alle Einzelnen und an das Projektteam im Besonderen. Es tue ihm leid, wenn er daran denke, wo die vielen Menschen der untergehenden Länder hinsollen.
"Die Auswirkungen des Klimawandels werden gravierend sein und jeden betreffen, ob er es glaubt oder nicht. Wenn das Eis schmilzt, wachsen die Berge. Grönland wird es gutgehen. Es ist wichtig, dass es Hoffnung gibt. Die Hoffnung bist du. Nicht Politik, Wirtschaft oder Religion. Ohne Hoffnung werden viele Millionen sterben und wenige werden ein Leben haben."
Angakkorsuaqs Botschaft ist eine spirituelle, eine der Verbindung, des gemeinsamen Redens, für das Umdenken jedes Einzelnen.
Entsprechend seiner Rolle ist seine Rede eine Zeremonie, mit Trommel und Gesang. Es ist eine Initiation des Publikums. Wenn er erzählt, spürt man, dass er seine Botschaft schon oft vorgetragen hat, sie enthält Witze und Anekdoten, die auf ein Publikum außerhalb der Welt der Indigenen abgestimmt ist. Sie bleibt dennoch Ansprache, die es schafft, den gesamten Saal zu rühren.
Fakten untermauern die "Prophezeiung"
Vor Angakkorsuaq hat Michael Rast Fakten zum Klimawandel in Grönland in einem Vortrag erläutert, mit Grafiken aus Langzeit-Daten, fundierte Forschung also.
Der Forscher Rast bestätigt die "Prophezeiung", die Angakkorsuaq kurz angedeutet und im Buch zum Projekt festgehalten hat: 2009 hatte Angakkorsuaq Schamanen und Älteste nach Grönland eingeladen, um die Rückkehr des Feuers auf Grönland zu würdigen. Es sei wieder möglich, Feuer zu machen, mit Holz, das auf Grönland wächst. Gleichzeitig sei dies ein Zeichen für eine neue Weltzeit, eine Zeit der Not.
Die Ausstellung
Die vom Freundeskreis Willy-Brandt-Haus unterstützte Ausstellung "Stella Polaris – Ulloriarsuaq" ist noch bis zum 1. Juli 2018 im Willy-Brandt-Haus in der Wilhelmstraße 140 in Berlin-Kreuzberg zu sehen. Die Ausstellung ist täglich außer sonn- und feiertags von 12 bis 18 Uhr geöffnet. Für den Einlass ins Willy-Brandt-Haus ist die Vorlage eines Personaldokuments erforderlich.
In Rasts Vortrag zeigt sich die "Not" anders: Im November 2017 war in Grönland das geringste Eisvolumen festzustellen gewesen. Pro Jahr verliere die Insel 375 Kubikkilometer Eis, dreimal so viel wie die Antarktis.
Der Abschmelzprozess werde durch zwei Faktoren beschleunigt: zum einen durch das Entstehen sogenannter Gletscher-Mühlen, Wasser-Arme, durch die das Wasser bis in die Tiefen vordringt und so auch unter der Oberfläche den Schmelzprozess fördert. Zum Anderen durch den mit dem Abschmelzen des Eises frei werdenden Torf, der sich spontan entzündet.
Eine der von Rast zitierten Grafiken zeigt eine gravierende Veränderung des durchschnittlichen globalen Meeresspiegels. Dessen Anstieg sei über geraume Zeit linear gewesen, nun zeige sich eine Kurve nach oben, die einen beschleunigten Anstieg ausweise.
Nach derzeitigen Berechnungen steigt der Meeresspiegel etwa drei Millimeter pro Jahr an. Schmelze nur der kleinere Zachariae-Gletscher vollständig, würde der Meeresspiegel um etwa 1,30 Meter innerhalb von 80 Jahren ansteigen.
Am Eröffnungsabend treffen zwei Welten aufeinander, eine der Erfahrung und Lebenspraxis und eine der Forschung, eine, die nah am Geschehen und Puls der Veränderung ist, und eine, die über den Draufblick, mit Daten, errechnet, wie die Welt sich verändert. Die Schnittmenge: Daten und Langzeitbeobachtungen beweisen die Richtigkeit der Botschaft.
Die Forschung hofft, mit Maßnahmen den Anstieg des Meeresspiegels noch bremsen zu können. Die Nahsicht und darauf fußende Prophezeiung geht davon aus, dass das Eis in Grönland komplett abschmelzen wird. Und dennoch steht auch hier die Hoffnung im Mittelpunkt, eine der spirituellen Art.