Porträtaufnahme von Ralf Schmidt-Pleschka.
Ralf Schmidt-Pleschka. (Foto: Lichtblick)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Ralf Schmidt-Pleschka, Koordinator für Energie- und Klimapolitik beim Hamburger Ökostrom-Anbieter Lichtblick.

Klimareporter°: Herr Schmidt-Pleschka, vor zehn Jahren ereignete sich der GAU in Fukushima – für viele der Anfang vom Ende der Atomenergie. Weltweit sind wir davon noch ein gutes Stück entfernt, aber hätten Sie vor zehn Jahren gedacht, dass Deutschland Ende 2022 das letzte AKW vom Netz nimmt?

Ralf Schmidt-Pleschka: Am Tag der Katastrophe habe ich mir das noch nicht vorstellen können. Die damalige schwarz-gelbe Regierung hatte ja erst kurz zuvor die Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler durchgedrückt. Aber es war schon klar, dass die schockierenden Bilder und Meldungen aus Japan das Thema wieder hochspülen würden.

Dass Angela Merkel plötzlich die Rückkehr zum alten rot-grünen Atomausstieg propagierte, hatte dann aber viel damit zu tun, dass der Grüne Winfried Kretschmann gut zwei Wochen nach der Reaktorkatastrophe zum Ministerpräsidenten des CDU-Stammlandes Baden-Württemberg gewählt wurde. Verrückt und auch erschreckend, wie Politik manchmal funktioniert.

Diese Woche beschloss die Bundesregierung eine weiterentwickelte Nachhaltigkeitsstrategie. Die Ziele sollen künftig auch die internationale Perspektive beleuchten. Hinzu kommen neue Indikatoren: Beitrag zur globalen Pandemieprävention, Frauen in Führungspositionen von Bundeseinrichtungen, Väterbeteiligung beim Elterngeld, Breitbandausbau, globaler Konsum. Für viele sind solche Papiere folgenlose Absichtsbekundungen – für Sie auch?

Da halte ich es mit Adi Preißler: "Grau is im Leben alle Theorie, aber entscheidend is aufm Platz!" Die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie werte ich da mal als Theorie. Aufm Platz aber, da ist das Leben, da entscheidet sich auch die Nachhaltigkeit.

Und da haben wir ein sehr klares und schwerwiegendes Problem: Wir müssen ab 2035 klimaneutral leben, nur so kann die 1,5-Grad-Grenze des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden. Daher stellt sich die Frage: Was muss heute schon dafür passieren?

Eine Antwort auf diese Frage haben wir bei Lichtblick gerade im Report "Klimaneutral leben 2035" veröffentlicht. Die Zusammenfassung ist schon verfügbar, der Gesamtreport erscheint am Montag.

Darin treffen wir eine Familie und einen Single im Jahr 2035, die uns erzählen, wie sie ihren Energieverbrauch komplett klimaneutral decken. Der Report erläutert auch, wie die Politik durch kluge und konsequente Entscheidungen dafür gesorgt hat, dass sie ihr Leben ohne großen Aufwand und Mehrkosten klimagerecht umstellen konnten.

Denn eines ist doch klar: Die Verhältnisse müssen sich ändern, damit sich das Verhalten ändert.

Es geht also bei der Klimaneutralität um konkrete, für den Alltag nützliche Weichenstellungen in der Politik. Das betrifft den Umstieg auf erneuerbare Energien ebenso wie die faire Lastenverteilung, eine sozial gerechte Sanierung von Wohnungen und eine klimaverträgliche Mobilitätspolitik. Das ist entscheidend.

Diese Woche warnte der Deutsche Wetterdienst vor einem Temperaturanstieg um vier Grad. Künftig will die Behörde genauer ermitteln, wie stark Extremwetterereignisse auf die Klimakrise zurückzuführen sind. Welche Erkenntnisse brauchen wir eigentlich noch, um ins Handeln zu kommen?

Ich durfte bereits vor über 30 Jahren den Wissenschaftler:innen lauschen, die – damals noch von vielen kritisiert – ihre alarmierenden Erkenntnisse über die Klimaerhitzung öffentlich machten.

Das Erschreckendste daran: Mit ihren Prognosen lagen sie verdammt richtig – vom Temperaturanstieg über den ansteigenden Meeresspiegel bis hin zur Zunahme von Wetterextremen. Wir können das heute zwar durch immer mehr Daten eindrucksvoller untermauern als damals, aber die Erkenntnis ist schon lange da.

Umso deutlicher wird, dass meine Generation viel zu wenig getan hat, die Katastrophe abzuwenden. Deshalb stehen wir jetzt ziemlich schlecht da vor unseren Kindern und Enkeln, und uns läuft die Zeit zum Handeln davon. Das ist bitter, gerade auch für die, die sich schon so lange für Klimaschutz und Energiewende engagieren.

Heute wird in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. Sollten wir uns auf Überraschungen einstellen?

Eine solche Überraschung wie damals nach der Fukushima-Katastrophe wird es wohl nicht geben. Aber es sind zwei richtungsweisende Wahlen in der Coronakrise.

Ich bin gespannt, wie sehr die große Kritik am politischen Krisenmanagement und erst recht das schamlose Bereichern mehrerer Unionsabgeordneter im Bundestag sich auf die Wahlbeteiligung auswirken wird.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Sie meinen außer dem Rücktritt von Jogi Löw? – Da hat mich am ehesten der WWF überrascht. Lichtblick setzt sich seit Jahren dafür ein, dass auch geförderter Ökostrom direkt an Endkunden verkauft werden darf. Lange waren wir da allein unterwegs. Doch in letzter Zeit gibt es immer mehr Zuspruch.

In seinem Konzept "Ökostrom next generation" fordert jetzt auch der WWF als erste Umweltorganisation eine Neuordnung des Ökostrommarktes. Das war eine schöne Überraschung. Es kann doch nicht sein, dass Kunden bei der Suche nach Ökostrom in aller Regel kein Angebot aus heimischen Anlagen gemacht werden kann.

Fragen: Jörg Staude und Sandra Kirchner

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