Porträtaufnahme von Ralf Schmidt-Pleschka.
Ralf Schmidt-Pleschka. (Foto: Lichtblick)

Immer wieder sonntags: Die Mitglieder unseres Herausgeberrates erzählen im Wechsel, was in der vergangenen Woche wichtig für sie war. Heute: Ralf Schmidt-Pleschka, Koordinator für Energie- und Klimapolitik beim Hamburger Ökostrom-Anbieter Lichtblick.

Klimareporter°: Herr Schmidt-Pleschka, die EU‑Kommission hat in dieser Woche ihren Vorschlag vorgelegt, um das 55-Prozent-Ziel zu erreichen. Zwölf Gesetzesinitiativen sollen das Leben und Wirtschaften in Europa klimafreundlicher machen. Die Kommission setzt vor allem auf den CO2-Emissionshandel, schärfere Flottengrenzwerte für neue Pkw und eine CO2-Grenzabgabe. Finden Sie das Paket eher mutig oder eher mutlos?

Ralf Schmidt-Pleschka: Ein derart umfassendes Paket hat naturgemäß Stärken und Schwächen. So reicht das Ziel "Klimaneutralität 2050" sicher nicht, um das Paris-Abkommen zu erfüllen. Auch ist mir nicht klar, ob der neue Emissionshandel für den Verkehrs- und Wärmesektor ab 2026 wirklich deutlich zur CO2-Minderung beitragen wird.

Überzeugend ist allerdings, dass für fast alle Politikbereiche gleichzeitig Klimaziele und Maßnahmen beschlossen werden sollen. Das kann in der Summe zu einem echten Gamechanger werden.

In einigen Punkten ist die EU-Kommission auch mutiger als die noch amtierende Bundesregierung. Eine Stärkung des Ökostrommarktes und das Verbot von Verbrennern ab 2035 sucht man in den deutschen Gesetzen leider bislang vergebens.

Anlass zur Sorge geben aber die neuen EU-Beihilfeleitlinien. Ihr einseitiger Fokus auf CO2‑Minderung widerspricht dem Nachhaltigkeitsgedanken. Denn so werden die gefährliche Atomenergie und die CO2-Abscheidung und -Speicherung, sprich CSS, faktisch den erneuerbaren Energien gleichgestellt. Das konterkariert die Ziele des "Fit for 55"-Pakets.

Es gibt also diverse Baustellen im und rund um das EU-Paket, derer sich die amtierende und die nächste Bundesregierung annehmen müssen. Es gibt noch genug Zeit, die Mängel zu beheben.

Um den gewaltigen Bedarf an klimaneutraler Energie und vor allem den steigenden Strombedarf zu decken, will die EU-Kommission vor allem den Ausbau der erneuerbaren Energien voranbringen. Allerdings soll es in der Erneuerbare-Energien-Richtlinie auch künftig keine verpflichtenden Ausbauziele für die einzelnen EU-Staaten geben. Hat die Kommission den Ökostrom in ihrem Paket vergessen?

Die Erneuerbaren sind der Schlüssel für den Klimaschutz und sollen ausgebaut werden. Das wollen alle, doch am liebsten sollen das andere übernehmen. Dieser Passus ist insofern Ausdruck einer kollektiven Verantwortungslosigkeit. Das wirft ein schlechtes Licht auf das EU-Paket und muss dringend nachverhandelt werden.

Ein ambitionierter und verlässlicher deutscher Ausbaupfad für erneuerbare Energien wäre sicher eine gute Blaupause für andere EU-Staaten. Aber die große Koalition hat es nicht vermocht, einen solchen zu beschließen. Ebenso wie auf der EU-Ebene haben wir auch national nur eine Zielmarke, 65 Prozent Ökostrom-Anteil 2030, die in der Luft hängt. Das muss sich rasch ändern.

Der Bundeswirtschaftsminister hat in dieser Woche den für 2030 prognostizierten Stromverbrauch um zwölf Prozent heraufgesetzt – auf 655 Milliarden Kilowattstunden. 65 Prozent dieser Strommenge sollen also 2030 aus erneuerbaren Quellen stammen. Wie realistisch ist dieses Zahlengefüge?

Zunächst einmal ist es grotesk, dass Peter Altmaier jahrelang stur und gegen jede berechtigte Kritik an seiner viel zu niedrigen Lügen-Prognose festgehalten hat und sie nun im Wahlkampf wie ein gebrauchtes Papiertaschentuch in den Müll wirft. Diese Art zu regieren ist zynisch.

Denn mit den falschen Zahlen hat der Bundeswirtschaftsminister über Jahre ganz bewusst eine realistische Bedarfsabschätzung und eine substanzielle Beschleunigung des Ökostromausbaus verhindert. Seine neue Rechnung kann man ihm schon deshalb nicht abnehmen.

Der Energiebranchenverband BDEW und viele Fachleute gehen weiterhin von einem höheren Strombedarf für 2030 aus. Vergessen wir also die Altmaierschen Zahlenspiele und wenden uns lieber der Realität zu. Dann haben wir zumindest die Chance, die von ihm verspielte Zeit noch aufzuholen.

Einen schnellen Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung fordern die Regierungsberater vom WBGU in einem neuen Papier zur Klimaneutralität. In einem Punkt gibt es schon eine Reaktion: Spätestens 2040 soll nach dem Willen des Umweltministeriums kein Erdgas mehr in der Energiebranche eingesetzt werden. Lichtblick bietet seinen Kunden zertifiziertes Ökogas an, dessen Emissionen unter anderem durch Klimaschutzprojekte kompensiert werden. Wie sehen Sie die Zukunft des Erdgases?

In einer klimaneutralen Energieversorgung hat Erdgas keinen Platz. Diese Erkenntnis kommt in der Energiebranche erst ganz langsam an. Hier träumen viele vom grünen Wasserstoff, dessen Ära sich nahtlos an die Erdgas-Ära anschließen soll.

Im Stromsektor mag das vielleicht eine Option sein. Doch bei der Wärme ist der grüne Wasserstofftraum rasch ausgeträumt, dafür ist der Stoff zu teuer und viel zu knapp.

Die Vision, nur den Brennstoff zu wechseln und ansonsten alles beim Alten zu lassen, führt deshalb nicht in eine klimaneutrale Zukunft. Sie würde vielmehr auf lange Sicht Erdgas im Energiemix halten. Das aber können wir uns klimapolitisch nicht leisten.

Es gibt weit bessere Alternativen, die heute schon technisch ausgereift und bezahlbar sind. Das von Ihnen angesprochene klimaneutrale Gas ist eine Option, die Lichtblick anbietet. Ob und wie lange das aber noch von den Kunden gewünscht und erforderlich ist, sei dahingestellt.

Tatsächlich sehen wir die Zukunft in der Elektrifizierung des Wärmesektors. Mit effizienten Ökostrom-Wärmepumpen leisten wir heute schon einen erheblichen Beitrag für die Versorgung mit klimaneutraler Wärme. Zusammen mit einer Intensivierung der Abwärme- und Solarwärmenutzung bereitet Ökostrom den Weg in eine klimaneutrale Wärmeversorgung ohne Erdgas.

Die Diskussion über den Ausstieg aus dem Erdgas muss dringend Fahrt aufnehmen. Die nächste Bundesregierung ist gehalten, den Ausstieg einzuleiten. Sonst drohen weitere Lock-in-Effekte, die das Ende der fossilen Energien unnötig teuer und kompliziert machen.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Es war diesmal eine fürchterliche Überraschung. Ich hätte nicht geglaubt, wie nah die Klimakatastrophe uns auch im eher beschaulichen Deutschland kommen kann. Ich bin selbst im Ahrtal groß geworden, das diese Woche von unglaublichen Wassermassen heimgesucht wurde. Die Toten und das Ausmaß der Zerstörung haben mich deshalb vielleicht besonders tief getroffen.

Es steht so viel auf dem Spiel, doch viele glauben immer noch, wir könnten so weitermachen wie bisher. Die Bilder dieser Woche haben uns ganz bitter aufgezeigt, wo wir wirklich stehen.

Fragen: Jörg Staude