Stimmt es, dass Deutschland bis 2020 seine CO2-Emissionen um 40,8 Prozent gegenüber 1990 gesenkt und damit sein Klimaziel knapp erfüllt hat? Stimmt – auch wenn fast zwei Prozentpunkte der Reduktion durch die Folgen der Corona-Pandemie zustande kamen.
Es ist aber genauso richtig festzustellen, dass das Minderungsziel der Bundesregierung für 2020 eigentlich nicht erfüllt wurde – unabhängig von der Pandemie.
Wie das? Ganz einfach. Die selbstgesetzte Pflicht zur 40-prozentigen Minderung teilte sich in zwei Bereiche auf. Der eine große Bereich umfasst Kraftwerke und Industriebetriebe und wird über das Europäische Emissionshandelssystem ETS reguliert. Hier hat Deutschland seine Ziele übererfüllt, vor allem durch den Ausbau erneuerbarer Energien und den beginnenden Kohleausstieg.
Etwa die Hälfte der deutschen Emissionen wird aber nicht über das ETS geregelt, sondern über die sogenannte Lastenteilungsentscheidung (Effort Sharing Decision, ESD) innerhalb der Europäischen Union. Darunter fallen gerade die klimatisch problematischen Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft.
Laut ESD war Deutschland verpflichtet, seine CO2-Emissionen von 2013 bis 2020 um 14 Prozent zu verringern. Im Unterschied zum 40-Prozent-Ziel, das erst 2020 abgerechnet werden musste, setzt die ESD jährlich sinkende Emissionsgrenzen, die ebenso jährlich erreicht werden müssen – de facto ist das eine Bugdet-Lösung.
ESD-Basisjahr ist 2005 mit einer Emissionsmenge für Deutschland von 478 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent für die genannten Sektoren. Die gesamten deutschen Treibhausgas-Emissionen betrugen damals übrigens 993 Millionen Tonnen.
Ein Reduktionsziel von 14 Prozent erscheint gering – aber das täuscht offenbar: Seit 2016 sind Deutschlands jährliche ESD-Emissionen höher als die dem Land zugewiesenen Emissionsrechte, wie das Bundesumweltministerium auf Nachfrage mitteilt.
Rückgang "vor allem pandemiebedingt"
Bis 2018 wurden die Fehlbeträge dabei durch Überschüsse aus den Jahren 2013 bis 2015 ausgeglichen und im Jahr 2019 etwa 15 Millionen Tonnen Emissionsrechte aus dem Jahr 2020 vorgezogen, erklärt das Ministerium weiter. Das "Ausleihen" aus der Zukunft gehört zu den erlaubten Regularien der ESD.
Für 2019 ging das Ministerium schließlich von einem kumulativen, also in den letzten Jahren angehäuften Defizit von "mindestens 40 Millionen Emissionsrechten" aus, räumt die Behörde ein. Zu den 40 Millionen Tonnen seien dann noch die absehbaren Defizite des Jahres 2020 hinzugekommen.
Die Staaten sind verpflichtet, diese Defizite durch den Zukauf von Emissionsrechten aus anderen Ländern der EU auszugleichen – bis Ende 2022, Anfang 2023 muss das erledigt sein.
Schätzungen, die das 2020er Defizit mitkalkulierten, gingen schon von Kosten von mehreren hundert Millionen Euro für die Bundeskasse aus. Das Bundesfinanzministerium hatte auch schon vorsorglich jeweils 100 Millionen Euro in die jährliche Haushaltsplanung eingestellt.
Aber dann kam 2020 – die Pandemie mit Lockdowns, Homeoffice, dem Herunterfahren ganzer Branchen gewissermaßen auf Tempolimit null. Und siehe da, auch bei den Sorgenkindern und in erster Linie beim Verkehr wurde plötzlich ordentlich eingespart.
Bis dato hatten die Emissionen im Verkehr von 2015 bis 2019 sogar über dem Niveau von 2005 gelegen, keine Spur von einem Minderungspfad. Erst die Pandemie sorgte 2020 für einen, bisher einmaligen Trendwechsel – gegenüber 2019 sollen die Verkehrs-Emissionen um knapp 18 Millionen Tonnen gesunken seien. Das sind etwa elf Prozent.
Emissionsrechte derzeit günstig zu haben
Dies entspricht ziemlich genau der Menge an ESD-Emissionen, die die Pandemie im Jahr 2020 der deutschen Klimabilanz insgesamt ersparte. Denn von den 40 Millionen Tonnen schrumpfte das Defizit um 18 Millionen auf 22 Millionen Tonnen, wie eine kürzlich für das Bundesumweltministerium angefertigte Kurzstudie des Öko-Instituts ausweist. Dieser Rückgang sei "vor allem pandemiebedingt", räumt ein Sprecher des Umweltministeriums gegenüber Klimareporter° ein.
Die 22 Millionen Tonnen, die dennoch an den 14 Prozent ESD-Reduktion fehlen, müssen natürlich noch ausgeglichen werden. "Wir gehen von sehr niedrigen Kosten für die Emissionsrechte aus", betont Studienautor Jakob Graichen vom Öko-Institut. EU-weit gebe es einen "ganz erheblichen Überschuss an Emissionsmengen".
Dieser Überschuss könne für die Verpflichtungsperiode ab 2021 nicht mehr genutzt werden und verfalle dann. Nach Graichens Ansicht wird es deswegen Länder geben, die Emissionsrechte zu einem Euro pro Tonne oder sogar noch günstiger verkaufen werden.
Auf ganz so billige Weise will sich das Ministerium aber nicht aus der Defizitklemme befreien. Mit der nunmehr vorliegenden Schätzung durch das Öko-Institut werde das Ministerium die Ankaufstrategie planen, erklärt der Ministeriumssprecher.
"Wir werden den Ankauf von Emissionsrechten dabei so gestalten, dass die Mittel in weniger wohlhabende EU-Länder und dort gezielt in Klimaschutz-Maßnahmen fließen", so der Sprecher. Zu möglichen "Preiskorridoren" äußere man sich aber nicht, weil das die Verhandlungsposition schwächen würde.
Experten rechnen mit Zertifikatspreisen von bis zu fünf oder sechs Euro je Tonne. Der Pandemie-Profit von 18 Millionen Tonnen Treibhausgasen erspart dem Bundeshaushalt so mindestens einen zweistelligen, wenn nicht sogar einen dreistelligen Millionenbetrag.
Die Ziele stimmen, es geht um die Maßnahmen
Für die kommenden Jahre kann sich Deutschland den Kauf ausländischer Emissionsrechte übrigens sogar gänzlich sparen. Ab 2021 gilt für die Bereiche, die nicht dem Emissionshandel unterliegen, nicht mehr die ESD, sondern die ESR (Effort Sharing Regulation), die europäische Klimaschutzverordnung.
Deren Ziele werden zwar deutlich anspruchsvoller ausfallen, nachdem die EU ihr Klimaziel für 2030 verschärft hat – von 40 auf 55 Prozent Treibhausgas-Reduktion gegenüber 1990. Weil aber das neue Klimaschutzgesetz der Koalition, das der Bundestag kommende Woche noch verabschieden soll, mit seiner 65-prozentigen CO2-Reduktion bis 2030 den deutschen Anteil am EU-Ziel ganz gut abbildet, braucht sich Deutschland für die nächsten zehn Jahre eigentlich nur ans Gesetz zu halten, um Defizite in den Effort-Sharing-Sektoren zu vermeiden.
Auch für Energieforscher Graichen sind die Ziele des neuen Klimagesetzes erst einmal anspruchsvoll genug. "Am dringendsten sind schnelle und effektive Maßnahmen zur Erreichung der neuen Sektorziele", betont er.
Anderenfalls drohe doch noch die Gefahr, erneut Emissionsrechte zukaufen zu müssen – die dann nicht mehr so preiswert zu haben sein werden, stellt Graichen klar. Weil alle EU-Länder deutlich ehrgeizigere 2030er Klimaziele haben werden, werde es voraussichtlich viel weniger freie Emissionsrechte geben.
Und dass eine erneute Pandemie Deutschland wieder aus der Patsche hilft – darauf wird vermutlich niemand ernsthaft bauen wollen.