Mehrere Stapel 100-Euro-Scheine liegen nebeneinander.
Wenn sich grünes Geld vermehrt, ist das noch kein Wirtschaften in den Grenzen des Planeten. (Foto: Quince Media/​Pixabay)

Es ist höchste Zeit für die Einsicht: Schrittweise Veränderungen helfen nicht mehr bei der Bewältigung der Umwelt- und Klimakrise. Ein Verbot von Plastikstrohhalmen oder Ähnliches reicht nicht aus. Die einzige Lösung ist eine grundlegende Umgestaltung unseres gesamten Wirtschaftssystems, zeigt der am Mittwoch veröffentlichte Bericht der Europäischen Umweltagentur EEA über den "Zustand der Umwelt 2020".

Die Überprüfung zeigt: 29 der 35 Umwelt- und Klimaziele der EU für 2020 werden nicht erreicht – das betrifft das Energiesparen, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden, die chemische Verschmutzung sowie den Erhalt von Arten und Lebensräumen.

Entsprechend schlussfolgert der Bericht: "Europa steht im Umweltbereich vor Herausforderungen von nie da gewesener Größenordnung und Dringlichkeit" und wird seine Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen, wenn es das Wirtschaftswachstum weiter fördert und nur versucht, dessen Auswirkungen in den Griff zu bekommen.

Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen steht vor gewaltigen Herausforderungen. Sie ist verpflichtet, das Allgemeininteresse der Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Das bedeutet auch, dass sie sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und der wachsenden öffentlichen Sorge um Klima und Umwelt orientieren muss.

Die Europäische Umweltagentur ruft nicht als einzige dazu auf, das nicht nachhaltige Wirtschaftswachstum aufzugeben. Erst im November schlugen 11.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 153 Ländern Alarm: Menschliches Leid sei nur vermeidbar, wenn wir unsere Lebensweise drastisch verändern – weg vom Wachstum nach dem Maßstab des Bruttoinlandsprodukts, hin zur Erhaltung der Ökosysteme und zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens, indem der Befriedigung der Grundbedürfnisse Vorrang gegeben und die Ungleichheit verringert wird.

Fossile Industrien lassen sich nicht "begrünen"

Wie die EU-Kommission dazu steht, wird sie in ihrem mit Spannung erwarteten Vorschlag für einen "European Green Deal" bekannt geben. Der soll nächste Woche vorgestellt werden und wird zeigen, ob die Kommission bereit ist, die dringenden wie mutigen politischen Richtlinien einzuführen, die letztlich unsere gesamte Gesellschaft transformieren werden.

Jagoda Munić

ist Vorsitzende von Friends of the Earth Europe, einem europa­weiten Dachverband von Umwelt­organisationen. Dazu gehören etwa der BUND in Deutschland, Global 2000 in Österreich – und Zelena akcija in Kroatien, wo sich die studierte Ökologin lange gegen die Privatisierung von Natur­ressourcen einsetzte. Bis 2016 leitete sie vier Jahre den weltweiten Dachverband Friends of the Earth International.

Von der Leyen hat schon viele grüne Versprechen abgegeben. Ihre Vorschläge für den "Deal" müssen aber weit über eine "Ökologisierung" des Wirtschaftswachstums hinausgehen. Denn dieser Ansatz wird, das zeigt der EEA-Bericht, den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger ganz und gar nicht gerecht. Eine starke Rhetorik bemäntelt eben oft nur Vorschläge für geringfügige Veränderungen. Damit muss Schluss sein.

Wie würde ein wirklicher "Green Deal" für Europa aussehen? Die Maßnahmen müssen dem Ausmaß und der Dringlichkeit des Klimanotfalls entsprechen.

Es ist zu spät, das Ziel der Klimaneutralität in der Mitte des Jahrhunderts zu platzieren. Wir brauchen schnelle Maßnahmen, die sich auf die nächsten fünf bis zehn Jahre konzentrieren und die Treibhausgasemissionen jährlich senken – und zwar entsprechend dem Anteil der EU an den globalen Aktionen, die die Erderwärmung unter 1,5 Grad halten sollen.

Es darf keinerlei Zugeständnisse für mehr fossile Brennstoffe wie Erdgas und keine weiteren Subventionen für Projekte mit fossilen Energien geben.

Handel mit CO2 oder Biodiversität ändert nichts

Wir befürworten die Einrichtung eines neuen EU-Fonds für den gerechten Übergang. Kommunen und Arbeitnehmer, die vom Übergang in eine Zukunft ohne fossile Brennstoffe betroffen sind, benötigen Unterstützung, um in nachhaltige Sektoren und Jobs zu wechseln.

Porträtaufnahme von Olanf Bandt.
Foto: Sebastian Hennigs/​BUND

Olaf Bandt

ist seit Kurzem Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), des wichtigsten umwelt­politischen Mitglieder­verbands in Deutschland. Der gelernte Kfz-Mechaniker und studierte Umwelt­ingenieur ist seit 1992 beim BUND tätig, zunächst als Abfall­vermeidungs­experte, ab 2008 als Bundes­geschäfts­führer für Politik und Kommunikation.

Bei der Finanzierung für diesen Fonds muss es sich um "frisches" Geld handeln, mit dem transparent umgegangen wird und dessen Verwendung Ungleichheit beseitigt. Industrien, die die Klimakrise verursacht haben, dürfen auf keinen Fall mehr unterstützt werden.

Grundlegend bei allen Maßnahmen sind der Schutz der biologischen Vielfalt und die Wiederherstellung der Natur. Die EU sollte hier – sowohl im Inland als auch international – tätig werden und sich auch der Einfuhr von Lebens- und Futtermitteln sowie von Holz und anderen Ressourcen annehmen, die zur Entwaldung führen.

Diskutiert werden sollten ein vollständiger Ausstieg aus der Nutzung synthetischer Pestizide sowie eine grundlegende Umgestaltung des Subventionssystems, um den Übergang von der industriellen zu einer ökologischen Landwirtschaft zu ermöglichen.

Marktmechanismen wie der Emissionsrechtehandel oder der Biodiversitätsausgleich verfestigen den Status quo. Sie haben keinen Platz in einem echten "Green Deal".

Politik muss ökologische Grenzen anerkennen

Doch all das wird nur etwas bringen, wenn auch Maßnahmen ergriffen werden, um die Nachfrage nach Energie und Ressourcen, nach Boden und Land zu begrenzen. Letztendlich bedeutet das, sich vom Trugschluss eines stetig steigenden Konsums und Wachstums zu befreien.

Das gilt auch für das sogenannte "grüne Wachstum". Alle gut gemeinten Initiativen eines "Green Deal" werden ins Leere laufen, wenn sie in ein von Konsum und Wachstum besessenes Wirtschaftsmodell eingebettet bleiben. Europa muss eine Vorreiterrolle bei der Transformation von Volkswirtschaften zum Wohle aller und innerhalb der ökologischen Grenzen unserer Erde einnehmen.

 

Ein solcher Wandel bedeutet, die Politik aus dem Würgegriff von Unternehmensinteressen zu befreien, angefangen bei denen an fossilen Rohstoffen. Dort sollte zunächst der Zugang zu öffentlichen Entscheidungsträgern eingeschränkt werden.

Von nun an müssen Umwelt und Klima bei jeder Entscheidung von Kommissionspräsidentin von der Leyen im Vordergrund stehen. Vor diesem Hintergrund muss die Politik echte Transformationslösungen vorlegen.

Viele von uns würden dies als "Systemwechsel" bezeichnen und einen solchen Wandel begrüßen. In vielen Teilen Europas wird für ökologische und soziale Gerechtigkeit demonstriert – und es sieht derzeit nicht so aus, als ob diese Bewegung an Fahrt verliert.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befürworten einen Wandel. Die Menschen, besonders die jüngeren, fordern einen Wandel. Jetzt müssen unsere Institutionen ihn umsetzen. Ohne einen echten Wandel geht es nicht.

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