Eine Fahrspur der Straße ist kurzerhand mit Baken zu einem Radweg umgewidmet worden.
Pop-up-Radwege wie hier in Berlin können zu Dauereinrichtungen werden, wenn die Politik nicht einknickt. (Foto: Nicor/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Frau Reisch, die Coronakrise hat unseren Alltag durcheinandergebracht, Millionen Jobs stehen auf der Kippe, die Wirtschaft ist in der Rezession. Gibt es denn auch positive Veränderungen?

Lucia Reisch: Es fällt schwer, diese zu sehen. Vielleicht, dass Corona den Blick darauf schärft, was uns wichtig ist, was uns guttut, was uns wirklich erfüllt – und was nicht. Die Erkenntnis, dass man mit recht wenigen Dingen gut leben und mit weniger Dienstreisen gut arbeiten kann.

Die Krise schärft auch den Blick für grundlegendere Bedrohungen wie den Klimawandel und das Artensterben – Krisen, die uns noch beschäftigen werden, wenn längst ein Impfstoff gefunden ist.

Wenn der Lockdown zu Ende ist, wird dann alles wieder so sein wie vorher? Oder werden Verhaltensänderungen bleiben?

Generell ist Verhalten stark kontextabhängig. Nach der Coronakrise ist zu erwarten, dass Verbraucher zu früherem Verhalten zurückgehen. Ausnahmen könnten beispielsweise Fernreisen sein, weil hier manche, vor allem Ältere, jetzt skeptisch sind. Möglich wäre auch, dass sich die Zunahme des Radverkehrs stabilisiert.

Allerdings sind strukturelle Veränderungen entscheidend: Wenn die Kommunen reagieren mit sicheren Radwegen und Tempo 30 auf vielen Straßen, kann man so eine Verhaltensänderung wohl auch über den Sommer retten.

Leider dauern solche strukturellen Änderungen meist viel zu lang. Aber es geht auch anders, wie Pop-up-Radspuren oder das Sperren von 160 Kilometern Straßenraum in Manhattan für Autos gezeigt haben. Ich denke nicht, dass dies alles wieder komplett zurückgefahren wird nach der Krise.

Außerdem haben viele während des Lockdowns erlebt, was in ihrer unmittelbaren Umgebung möglich ist und was ihnen guttut: Radeln und Entschleunigung, Selbermachen statt Frust-Shoppen. Was als Gewinn an Lebensqualität erlebt wurde, wird bleiben – was als Verzicht erlebt wird, eher nicht.

Die Bürger haben wegen Corona zum Teil drastische Einschränkungen akzeptiert, die sie beim Klimaschutz ablehnen – etwa den Verzicht auf Flugreisen. Wieso?

Aufgeklärte Bürger akzeptieren durchaus auch unangenehme Einschränkungen – wenn sie für alle gelten, wenn sie zeitlich begrenzt sind und wenn sie gut begründet und erklärt werden.

Porträtaufnahme von Lucia Reisch.
Foto: SVRV/​CCMP

Lucia Reisch

ist Professorin für inter­kulturelles Konsumenten­verhalten und Verbraucher­politik an der Copenhagen Business School und Gast­professorin an der Zeppelin Universität in Friedrichs­hafen, dort auch Leiterin des Forschungs­zentrums Verbraucher, Markt und Politik (CCMP). Die Verhaltens­ökonomin forscht seit 25 Jahren zu Konsum und Nachhaltigkeit und ist Herausgeberin des Journal of Consumer Policy. Sie war Vorsitzende des Sach­verständigen­rats für Verbraucher­fragen der Bundesregierung.

Die Dringlichkeit der Situation und das Vertrauen in die Aussender der Nachricht sind hier essenziell. Bei Corona haben Experten die Daten vorgelegt, die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder haben die Krisenkommunikation mit den Bürgern übernommen, sie alle gelten als glaubwürdig.

Es gab auch vorher schon Beispiele, wie drastische Verhaltensänderungen schnell funktionieren und die öffentliche Meinung nach einem Verbot von Ablehnung auf Zustimmung umschwenkte, etwa vor einigen Jahren das Rauchverbot. Hier war die Erfahrung für viele überraschend positiv.

Einstellungen und Verhaltensweisen lernen wir ja keineswegs überwiegend durch Information, sondern vor allem durch Verhalten selbst.

Was kann man daraus für Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz lernen?

Wenn die wissenschaftliche Datenlage deutlich ist und wenn die Maßnahmen wirksam und verhältnismäßig sind, sollte sich die Politik durchaus trauen, Strukturen zu schaffen und auch drastische Dinge auszuprobieren – so wie autofreie Wochenenden in Innenstädten oder Tempolimits.

Also Dinge, die für Umwelt, Klima und Gesundheit viel bringen, wenig kosten und die viele Menschen als mehr Lebensqualität erleben. Eine defossilisierte Gesellschaft ist ja auch gesünder.

Woran ich nicht glaube, ist, dass Menschen längerfristig auf Dinge verzichten, die ihnen wichtig sind.

Es ist eine alte Frage: Darf der Staat überhaupt steuernd auf Verhalten und Konsum einwirken?

Ich fand es schon vor der Coronakrise kurios, dass so getan wurde, als ob der Staat nicht einwirken würde. Das tut er die ganze Zeit, und zwar ganz erheblich – von der Mehrwertsteuer- und Kerosinsteuerbefreiung beim Flugverkehr über das Dienstwagenprivileg bis zu umweltschädlichen Subventionen für eine nicht nachhaltige Landwirtschaft. Ich kenne kaum einen Konsumbereich, der nicht reguliert oder subventioniert ist.

Wie stehen Sie zu finanziellen Kaufanreizen durch den Staat – wie etwa jetzt bei Elektroautos?

Grundsätzlich finde ich es gut, wirtschaftliche Hilfen zwingend an innovative Technologien zu binden: Geld vom Staat – also: unser aller Steuergeld – muss gleichzeitig die Energie-, Verkehrs- und Ernährungswende unterstützen.

Rollback oder Öko-Neustart?

Kohleausstieg verschieben, CO2-Preis überprüfen, Pkw-Emissionsziele strecken: Aus Wirtschaft und Politik mehren sich die Forderungen, Klimaschutz-Regeln beim Ankurbeln der Wirtschaft auszusetzen oder zu streichen. Der Corona-Neustart muss aber genutzt werden, um Klima- und Umweltschutz den überfälligen Push zu geben. Wie, das beleuchtet Klimareporter° in einer Interview-Serie mit prominenten Fachleuten.

Allerdings: Prämien nutzen erst einmal denjenigen, die auch in der Rezession ausreichend Einkommen für einen Neukauf übrig haben. Bei Elektroautos wird ein Umschwung eher durch ausreichende Elektroladestationen und höhere Reichweiten kommen.

Aus Klimasicht wäre es sinnvoll, ebenso Elektro-Fahrräder und Lastenfahrräder zu fördern – und auch energieeffiziente Haushaltsgeräte. Kurios, dass Impulsprogramme für Haushaltsgeräte schon mehrmals abgelehnt wurden, mit dem Hinweis, dass eine Förderung von 50 oder 100 Euro schon marktverzerrend sei.

Eine interessante Idee wären Gutscheine für den späteren Kauf von Elektroautos – dann hätten die Automobilkonzerne mehr Planungssicherheit, und auch die, deren Haushaltsbudget jetzt leidet, hätten etwas davon.

Sollten eher Steuern oder das Ordnungsrecht genutzt werden, um Verhalten zu beeinflussen? Also: zum Beispiel ein CO2-Preis, um Autokäufer zum Umsteigen auf E-Autos zu bringen – oder ein Verbot der Neuzulassung von Verbrennern etwa ab 2025?

Man braucht wirksame Pakete von verschiedenen Politikinstrumenten, weil es "den" Konsumenten nicht gibt, sondern viele verschiedene Situationen und Motivationen. Hier gibt es viel zu lernen von Ländern, die es bereits geschafft haben, Norwegen beispielsweise.

Mindestens so wichtig wie Steuervorteile und Fahrverbote sind beispielsweise Privilegien von E-Fahrzeugen, etwa beim Parken. Ein Verbot von Verbrennern halte ich für überflüssig, die werden uns bald sowieso sehr altmodisch vorkommen.

Eine Frage zum Schluss: Wird Corona den großen Einschnitt bringen? Oder wird es sein wie nach der Finanzkrise – alles zurück zum alten Modell?

Der größte Einschnitt wird wohl im Arbeitsleben bleiben: "Homeoffice geht nicht" war gestern. In der Wirtschaft wird es ein paar Verlierer geben, vor allem Geschäftsmodelle, die auf Teilen und gemeinsamem Nutzen beruhen.

Sorgen macht mir, dass in einer schrumpfenden Wirtschaft weniger in technologische Öko-Innovationen gesteckt werden kann. Für den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft brauchen wir aber nichts dringender als grüne Innovationssprünge.

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