Vor schwarzem Hintergrund zieht sich ein roter Lichtstreifen schräg über das Bild, drum herum etwas blaues Licht und die Anzeige eines Tachometers: über 220 km/h.
Ein Tempolimit wäre auch ein Signal, dass die Gesellschaft sich Grenzen setzt. (Foto: Gerd Altmann/​Pixabay)

Klimareporter°: Herr Grießhammer, in Ihrem neuen Buch zur Klimakrise fordern Sie, dass man "Politik und Leben ändern" muss. Reicht die Politik nicht aus? Appelle an den Einzelnen, klimafreundlich zu leben, haben bisher wenig gefruchtet. Trotz Fridays for Future boomen die SUV-Verkäufe und es wird kaum weniger geflogen wie bisher.

Rainer Grießhammer: Gute Politik ist natürlich die Voraussetzung, aber reicht alleine nicht aus. Bei Transformationen wie der Energiewende und wirksamem Klimaschutz muss es Veränderungen in mehreren gesellschaftlichen Bereichen geben – im Wertesystem, im Verhalten der Konsumenten, bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen und im Markt, ebenso bei den Infrastrukturen und der Technologieentwicklung. Das beeinflusst und verstärkt sich gegenseitig.

Man muss also Verhalten und Verhältnisse ändern.

Aber die Beharrungskräfte sind doch groß. Wer mit seinem SUV gerne auch mal mit Tempo 55 durch die Stadt brettert, wird nicht für Radverkehr und Tempo 30 eintreten oder dementsprechend wählen ...

Die Wechselwirkung ist sogar noch enger. Denn als Bürger hat man ja mehrere Rollen: Man ist Konsument, Arbeitnehmer, Wähler, Mieter oder Eigentümer, genervter Anwohner und Aktivist, ADAC- und BUND-Mitglied, Auto-Fahrer, der sich zugleich um die eigenen Rad fahrenden Kinder sorgt. Die Rollen klaffen immer mehr auseinander, der Selbstbetrug der Bürger wird immer absurder – das hat Fridays for Future sehr deutlich aufgezeigt.

Was meinen Sie mit Selbstbetrug?

Die meisten halten sich schon für Umweltschützer, weil sie den Müll trennen, ein paar Energiesparlampen oder LED eingeschraubt haben und gelegentlich im Bioladen einkaufen.

Richtig ins Gewicht fallen aber die zu große Wohnung, das zu große Auto, die mehrfachen Ferienflüge und der hohe Fleischkonsum. Im Buch habe ich vier "Klimachecker-Tabellen" zur Schnelleinordnung eingefügt – mit einem Ranking von A bis G. Bei Wohnen, Mobilität, Stromverbrauch, Ernährung werden die meisten Haushalte bei E oder F landen.

Sie trauen den Bürgern nicht zu, alleine von normal auf klimafreundlich umzuschalten? Dabei haben Sie in Ihren eigenen Untersuchungen doch immer wieder gezeigt, dass ein verändertes Konsumentenverhalten sehr viel für die Umwelt bringt und sogar Geld sparen kann.

Tatsächlich kann man die eigenen CO2-Emissionen durch verändertes Verhalten und Einkaufen um etwa die Hälfte reduzieren – und das bei gleichem Komfort. Aber das machen nur wenige Prozent der Konsumenten.

Porträtaufnahme von Rainer Grießhammer.
Foto: Patrick Seeger/​DBU

Rainer Grießhammer

Der studierte Chemiker und langjährige Geschäfts­führer des Öko-Instituts Freiburg warnte bereits früh vor dem Klimawandel und forderte in viel gelesenen Büchern eine engagierte Klimapolitik und nachhaltigen Konsum. Unlängst erhielt er das Bundes­verdienst­kreuz. Sein neues Buch heißt "Klima retten: Jetzt Politik und Leben ändern".

Im Mainstream wird es nur dann wesentliche Veränderungen geben, wenn Gesetze, CO2-Bepreisung, Produktentwicklung, Infrastrukturen und Verhalten in die gleiche Richtung gehen. Und das ist leider nicht der Fall.

Die Bundesregierung hatte "eine Million Elektroautos bis 2020" als Ziel gesetzt, hat aber versäumt, die Ladeinfrastruktur auszubauen, und die Automobilindustrie hat stattdessen Diesel-SUV in den Markt gedrückt.

Die Bürger hingegen haben im gleichen Zeitraum – und ohne jegliche Förderung – mehr als fünf Millionen E-Bikes gekauft, aber die Radwege sind vielerorts immer noch vorsintflutlich.

Flugzeuge sind mit weitem Abstand die klimaschädlichsten Verkehrsmittel, aber der Staat befreit den Flugverkehr von der Mineralölsteuer und der Mehrwertsteuer – jährlicher Steuerausfall zwölf Milliarden Euro. Damit könnte man alle erforderlichen Klimaschutzmaßnahmen finanzieren.

Beim Flugverkehr gibt es doch aber die Möglichkeit der CO2-Kompensation. Jeder Bundesbürger könnte seinen gesamten CO2-Ausstoß bilanziell auf null drücken, indem er seinen Treibhausgas-Ausstoß – im Schnitt 11,5 Tonnen – durch Finanzierung von Klimaschutzprojekten in Entwicklungsländern kompensiert. Das kostet, je nach Anbieter, zwischen 150 und 300 Euro im Jahr. Sinnvoll oder nicht?

Wenn man einen Flug nicht vermeiden kann, sollte man schon kompensieren. Der Kompensationsbetrag ist aber viel niedriger, als er aufgrund der externen Kosten durch Klimaschäden sein müsste. Bei 180 Euro pro Tonne CO2, wie vom Umweltbundesamt errechnet, wären das für die elf Tonnen dann schon rund 2.000 Euro.

Um diesen Betrag müsste dann übrigens auch ein Ferienflug nach Neuseeland teurer werden.

Unabhängig davon ist der mögliche Beitrag von Kompensationen zum Klimaschutz schon von der Struktur her gering. Die zehn größten Industrieländer verursachen rund 66 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Wenn nun alle anderen Länder der Welt ihre CO2-Emissionen von insgesamt 34 Prozent mit Kompensationsprojekten auf null senken könnten – eine schon irrwitzige Vorstellung –, würden die weltweiten CO2-Emissionen immer noch bei den 66 Prozent der zehn Industrieländer liegen.

Der Klimaschutz muss also schon "Made in Germany" sein. Im Kern können die CO2-Einsparungen nur durch Maßnahmen im eigenen Land erreicht werden – wie Kohleausstieg, Gebäudesanierung, Tempolimit.

Also muss die Politik doch den Rahmen setzen. Die Bundesregierung hat immerhin ein Klimapaket verabschiedet, das freilich heftig kritisiert wurde.

Dabei sind wesentliche Kritikpunkte auch noch unterbelichtet. Vor allem ist das von der Bundesregierung gesetzte CO2-Reduktionsziel viel zu schwach.

Wenn die Klimaerhitzung global deutlich unter zwei Grad bleiben soll, dürfte Deutschland anteilig zu seiner Bevölkerungszahl ab 2020 nur noch rund 5.000 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Gemäß Klimaschutzprogramm wäre diese Maximalemission aber schon 2026 erreicht. Ab dann dürfte gar nichts mehr emittiert werden.

Aber leider wird nicht einmal das schwache Reduktionsziel erreicht werden, das die Regierung sich gesetzt hat.

Warum?

Anders als prognostiziert wird der Stromverbrauch bis 2030 wegen der Elektromobilität und den Wärmepumpen zum Heizen steigen. Dann müsste auch der Ausbau der erneuerbaren Energien deutlich größer ausfallen als geplant.

Der gerade beschlossene Kohleausstieg fällt weiter hinter den vor einem Jahr nach langem Ringen gefundenen Kohlekompromiss zurück. Schon bis 2030 werden dadurch 40 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert. Und gleichzeitig wird die Windenergie an Land von der Bundesregierung abgewürgt.

Und die Maßnahmen im Verkehrssektor stärken eher den Autoverkehr, als ihn zu reduzieren, siehe Pendlerpauschale. Tempolimits wurden nicht einmal diskutiert.

Der Bundesrat hat über den Vermittlungsausschuss immerhin erreicht, dass die CO2-Bepreisung statt mit zehn Euro pro Tonne mit 25 Euro startet. Kein wegweisendes Signal?

Mehr war im Vermittlungsausschuss kaum zu erreichen. Aber dass eine Steigerung um 150 Prozent möglich war, zeigt erst recht, wie minimal der ursprüngliche Wert war.

Benzin und Diesel werden nun nächstes Jahr um rund 7,5 Cent pro Liter teurer werden – darauf dürften die Autofahrer kaum reagieren. Nur zum Vergleich: Der Dieselpreis liegt aktuell bei 1,25 Euro pro Liter, im November 2018 war er 20 Cent höher – 1,45 Euro.

In Ihrem Buch fordern Sie für den Verkehrsbereich ein dreifaches Tempolimit: 120/80/30. Glauben Sie denn, dass so etwas hierzulande durchsetzbar ist?

Die Klimaerhitzung ist ja schon Grund genug. Die Kosten für das Tempolimit sind minimal, die Maßnahmen wirken sofort und gleich vierfach: weniger CO2, weniger Schadstoffe, weniger Unfälle, weniger Lärm.

Die drei Tempolimits würden den Klimaschutz erheblich beschleunigen. Tempo 120 auf Autobahnen würde die CO2-Emissionen um drei bis 3,5 Millionen Tonnen reduzieren. Im innerstädtischen Bereich würde der Straßenlärm bei Tempo 30 drastisch reduziert und der Radverkehr befördert und sicherer gemacht. Die Unfallzahlen würden auf Autobahnen, Landstraßen und innerorts deutlich zurückgehen.

Ich sage voraus: Einige Monate nach der Einführung wird es wie beim Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen sein. Man kann sich dann gar nicht mehr vorstellen, welcher Unsinn früher erlaubt war. Und vor wenigen Tagen hat ja selbst der ADAC seinen grundsätzlichen Widerstand gegen Tempolimits aufgegeben.

Über die Wirkung der Tempolimits wird heftig gestritten. Zudem geht die Zahl der jährlichen Unfalltoten schon seit Jahren zurück.

Ja – weil die Sicherheitssysteme in den Autos besser geworden sind, die Verletzten schneller gerettet werden und die Unfallmedizin viele Fortschritte gemacht hat. So gibt es jährlich "nur noch" etwa 3.000 Unfalltote, aber bundesweit 30.900 Personen, die aufgrund eines Verkehrsunfalls in den letzten Jahren als schwerbehindert anerkannt waren, und insgesamt jährlich rund 400.000 Verletzte.

Es gibt keine andere Technologie mit so hohen Opferzahlen. Mit einem Beschluss zu Tempo 120/80/30 könnte man die vielen Verletzten, neue Schwerbehinderungen und die Unfalltoten um 30 bis 50 Prozent reduzieren.

Sie kritisieren nicht nur beim Tempolimit, sondern generell, dass die Politik zu langsam reagiert. Woran liegt das?

Die Politik, aber auch die Gesellschaft sind schon durch die schnellen Technologieentwicklungen vielfach überfordert – wie man bei der Digitalisierung oder der neuen Gentechnikmethode "Genome Editing" sieht.

Bei der Klimaerhitzung war die Vorwarnzeit viel länger, aber die Politik hat zu lange gewartet. Jetzt muss viel schneller und viel schärfer reagiert werden. Es drohen unkalkulierbare Kipppunkte mit irreversibler Beschleunigung der Klimakatastrophe – Auftauen von Permafrostböden, Austrocknen und Kollaps des Amazonas-Regenwalds und steigende Meeresspiegel durch das Abschmelzen von Gletschern in Grönland und der Westantarktis.

Der Soziologe Max Weber hat einst gesagt, Politik sei das langsame Bohren von harten Brettern. Aber dummerweise stehen wir schon auf sehr dünnem Eis.

Länder wie Dänemark und Finnland haben sich viel ehrgeizigere CO2-Ziele als Deutschland gesetzt. Ein Modell für uns?

Ländervergleiche sind immer schwierig, vor allem bei der Stromerzeugung. Dänemark hat weniger Industrie und viele gute Windstandorte. Finnland kann sehr viel Holz für die Energieerzeugung einsetzen und setzt weiter auf Atomstrom.

Beim Verkehr macht es mehr Sinn, etwas zu übernehmen. Da ist beispielsweise der Radverkehr in Kopenhagen ein Superbeispiel.

Auch bei den Tempolimits auf Autobahnen muss man keine Großversuche mehr machen, wie gerade die Versicherungswirtschaft vorgeschlagen hat, sondern nur ins Ausland blicken. Bei den Flächenstaaten haben weltweit nur so illustre Länder wie Afghanistan, Nordkorea, Somalia und Deutschland kein Tempolimit.

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