Porträtaufnahme von Aysel Osmanoglu.
Aysel Osmanoglu. (Foto: Patrick Tiedtke/​GLS)

Das Wichtigste aus 52 Wochen: Sonst befragen wir die Mitglieder unseres Herausgeberrats im Wechsel jeden Sonntag zu ihrer klimapolitischen Überraschung der Woche. Zum Jahresende wollten wir wissen: Was war Ihre Überraschung des Jahres? Heute: Aysel Osmanoglu, Vorstandsmitglied und ab Januar Vorstandssprecherin der GLS Bank.

Für meine Branche begann das Jahr 2022 mit einer bitteren Enttäuschung. Im Januar trat die EU‑Taxonomie in Kraft. Damit will die Europäische Union klar festlegen, welche Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig eingestuft werden.

Endlich transparente Finanzwirtschaft dank Taxonomie? Leider nicht.

Die Notwendigkeit ist in der Branche weitgehend unbestritten. Ganz anders die Umsetzung.

So deklariert das vermeintliche Klassifizierungssystem der Finanzwirtschaft aktuell Atomenergie und Erdgas als nachhaltig und verfehlt damit die Chance auf eine glaubwürdige Signalwirkung. Die Taxonomie ist in ihrer jetzigen Form selbst zu einem Greenwashing-Instrument geworden.

Dieser Kritik müssen sich die Verantwortlichen stellen und es ist wichtig, diese weiter zu formulieren und auf eine Anpassung der Taxonomie zu pochen. Möglicherweise widerspricht die Einstufung sogar dem bindenden Pariser Klimaabkommen.

Das EU-Land Österreich hat bereits Klage gegen die Einstufung von Erdgas und Atomkraft vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eingereicht. Greenpeace plant ebenfalls zu klagen, sollte die EU-Kommission die Kriterien nicht abändern.

Erdgas und Atomstrom sind nicht nachhaltig

Besonders enttäuschend ist die Entscheidung auch deshalb, weil nationale Einzelinteressen Vorrang gegenüber dem notwendigen konsequenten, gemeinsamen Vorgehen erhalten haben. Frankreich forcierte die Einstufung von Atomenergie als nachhaltig, Deutschland die von Erdgas. Vor dem Hintergrund einer drohenden globalen Klimakatastrophe ergibt es keinen Sinn, diese Technologien als nachhaltig einzustufen.

Erfreulich ist demgegenüber, dass das Thema Sustainable Finance im Jahr 2022 enorme Aufmerksamkeit bekommen hat. Nachrichtenportale zitieren Expert:innen zum Für und Wider der Kriterien für ein nachhaltiges Finanzwesen, und Geld wird endlich auch von einer breiten Öffentlichkeit als Einflussfaktor für Klima und Gesellschaft wahrgenommen.

Deutlich wird zudem, dass Finanzströme und die Wirkung von Investments ein wesentliches Instrument zur Einhaltung der Pariser Klimaziele darstellen können.

Die Klimakrise, aber auch die immer größer werdende soziale Ungleichheit sowie die Lieferengpässe zeigen, dass es eine andere Form des Wirtschaftens braucht. Eine, in der eben auch Wert auf faire und nachhaltige Lieferketten, solidarisches Miteinander und Vielfalt gelegt wird.

Es gibt viele Gestaltungsmöglichkeiten gerade in Krisenzeiten, nach dem Motto: "Never waste a good crisis". Die Energiekrise hat uns die Augen geöffnet für die fossilen Abhängigkeiten, in denen wir uns befinden, und für die Gefahren, die damit verbunden sind.

In Krisen füreinander einstehen

Angesichts dessen, dass ich diesen Jahresrückblick nach den Feiertagen im Kreis meiner Familie verfassen kann, blicke ich sehr demütig auf das Jahr 2022.

Nach zehn Monaten Krieg in der Ukraine blicken wir auf erschreckende Zahlen von Toten und Verletzten, während die Angriffe weitergehen. Wir blicken aber auch auf die große Kraft der Solidarität.

Zwischen Ende Februar und Anfang Dezember 2022 wurden laut Bundesinnenministerium über eine Million Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Überall in Deutschland haben sich Unterstützungsformen organisiert. Unternehmen wie die GLS Bank, Elinor, Ecosia und viele weitere Akteure organisierten eine Plattform, die Schutzsuchende und Anbieter eines Gästebetts zusammenbringt. Über 50.000 Betten konnten bereits vermittelt werden.

Unterkünfte, Sachspenden, seelische Betreuung und Medien, die Hilfsangebote auflisten und darüber informieren – all das lässt das Grauen des Krieges nicht verschwinden. Es zeigt aber, dass Menschen in Krisenzeiten füreinander einstehen. Auch das "Netzwerk der Wärme" ist dafür ein gutes und gelungenes Beispiel: eine Initiative der Berliner Landesregierung, ins Leben gerufen durch Senatorin Katja Kipping und von der GLS Bank durch Spenden unterstützt.

Wirtschaftssanktionen, Gasembargo und energiepolitische Verfehlungen der letzten Jahrzehnte haben auch in Deutschland für Knappheit gesorgt. Inflation und der Anstieg der Heizkosten führen in Teilen der Republik zu Existenzängsten. Das "Netzwerk der Wärme" lädt in Not geratene Berlinerinnen und Berliner im Winter zum Aufwärmen ein. Dafür öffnen soziale Einrichtungen, Unternehmen und öffentliche Stellen ihre beheizten Gebäude zum Aufwärmen und zum Austausch. 

Es war ein Jahr voller Krisen, Konflikte und Herausforderungen – teilweise ineinander verzahnt, teilweise durch egoistisches Handeln Einzelner verursacht. Aber es gibt immer Menschen, die Alternativen entwickeln und Veränderung vorantreiben mit Blick in eine hoffnungsvolle und lebenswerte Zukunft.

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