Künstlich wirkende Landschaft mit sanften grünen Hügeln, einem grünen Baum und einem großen in der Luft schwebenden H₂.
Auch bei der FDP glauben nicht alle an die schöne neue Wasserstoffwelt, der Fraktionsvorsitzende aber schon. (Bild: Peter Schreiber/​Shutterstock)

Wer die Energiewende infrage stellen will, kommt unvermeidlich mit dem Argument des Primärenergieverbrauchs. In seinem neunseitigen Positionspapier mit dem Titel "Die Zeitenwende erfordert eine Nationale Energiestrategie" zitiert Christian Dürr, seines Zeichens Chef der FDP-Bundestagsfraktion, auf Seite 6 die entsprechende Angabe: Sonne und Wind hätten 2022 nur sechs Prozent zum deutschen Primärenergieverbrauch beigetragen.

Auch wenn er sich dabei auf eine Zahl der renommierten AG Energiebilanzen bezieht, Tatsache ist: Sonne und Wind allein werden niemals den heutigen Primärenergieverbrauch decken müssen. Denn in diesen gehen zum Beispiel auch alle Energieverluste von Wärmekraftwerken oder Verbrennungsmotoren ein.

Viele dieser fossil bedingten Ineffizienzen fallen beim Umstieg auf erneuerbare Energien weg. Maßgeblich für deren Leistungsfähigkeit ist der Endenergieverbrauch, in dem viele der bestehenden fossilen Erzeugungsverluste nicht enthalten sind.

So lag 2021 der Endenergieverbrauch in Deutschland laut AG Energiebilanzen bei knapp 8.700 Petajoule, der Primärenergieverbrauch aber bei 12.400 Petajoule, war also um mehr als 40 Prozent höher. So rechnen Energiewende-Gegner den Anteil der Erneuerbaren kleiner.

Die alleinige Erwähnung von Wind und Sonne als Erneuerbare gehört zu den weiteren Tricks solcher Papiere. Der Beitrag anderer erneuerbarer Energien wie Wasserkraft oder Biomasse fällt so unter den Tisch, gerade auch wenn es um eine stabile Stromversorgung geht.

Selbst wenn man den Primärenergieverbrauch von 2022 nimmt, erreichten die Erneuerbaren letztes Jahr schon einen Anteil von gut 17 Prozent. Bei der Endenergie lag er schätzungsweise bei deutlich mehr als einem Viertel.

Veraltete Quelle trifft selektives Zitat

Seine Forderung nach einer "Energiestrategie 2045" hatte Dürr schon vor gut einer Woche selbst öffentlich gemacht. Auf seinen Social-Media-Accounts nannte er einige Punkte aus der vorangestellten Zusammenfassung des Papiers.

Verschiedene Medien berichteten in den Folgetagen über das Positionspapier, veröffentlicht wurde es aber nach bisherigem Stand nicht. Die FDP-Fraktion erklärte zum Stellenwert der Ausarbeitung auf Nachfrage von Klimareporter°, dies sei ein Papier des Abgeordneten Christian Dürr. Anders gesagt: Es stellt keine Position der Fraktion dar.

Die FDP-Fraktion hat es offenbar auch genauer gelesen als viele andere. Als eine Kronzeugin für seine Positionen zieht Dürr zum Beispiel die Leitstudie der Deutschen Energieagentur (Dena) aus dem Jahr 2018 heran.

Durch "einen breiten Technologiemix anstelle einseitiger Elektrifizierung" könnten bis zu 600 Milliarden Euro bis 2050 gespart werden, zitiert Dürr aus der Studie. Die Summe steht dort auch drin, nur ist die Dena-Studie inzwischen energie- und klimapolitisch einigermaßen veraltet.

Die dort vor fünf Jahren behandelten Szenarien gehen noch von Klimazielen aus, die für Deutschland eine Minderung der Treibhausgasemissionen um 80 beziehungsweise 95 Prozent bis 2050 vorsahen. Das ist heute überholt. Deutschland will bekanntlich 2045 klimaneutral sein.

Selbst für das weniger strenge 95-Prozent-Ziel kommt die Dena-Leitstudie aber zum Ergebnis, dass dazu eine Steigerung der Energieeffizienz und eine breite Elektrifizierung aller Sektoren nötig seien. Das werde zu einer weiteren Zunahme der Stromnachfrage führen.

Zu den bei Dürr äußerst beliebten Energieträgern Wasserstoff und E‑Fuels ist bei der Dena zu lesen: "Synthetisch erzeugte Energieträger werden berücksichtigt, wenn sie zwingend erforderlich werden." Beim FDP-Fraktionschef läuft die Energiewende dagegen im Kern darauf hinaus, Erdgas durch Wasserstoff sowie Benzin und Diesel durch E‑Fuels zu ersetzen.

Energieeinsparung gibt es nur "erzwungen"

Dürrs Strategiepapier stellt ein Sammelsurium der bekannten Unterstellungen gegenüber der Machbarkeit eines Energiesystems dar, das vor allem auf den direkten Einsatz von Ökostrom baut. So wird unterschwellig behauptet, ein erneuerbares Stromsystem sei allein auf Stromspeicherung angewiesen, um die schwankende Erzeugung auszugleichen. Alle anderen Flexibilitätsoptionen werden bei Dürr ausgeblendet.

Einsparungen durch steigende Effizienz kommen in dem Strategiepapier gleich gar nicht vor. Vielmehr polemisiert Dürr gegen EU-Vorhaben wie die Energieeffizienzrichtlinie oder die Ökodesign-Durchführungsverordnung für Heizungen und spricht von "erzwungener Energieeinsparung".

Noch gar nicht weiter bekannt aus dem Papier sind besonders fragwürdige klimapolitische Positionen von Dürr. Dass er Strategien zur CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) befürwortet, verwundert wenig. Er stellt sie aber auf eine Stufe mit der CO2-Vermeidung und nimmt die reinen Durchführungskosten als Entscheidungskriterium. Wörtlich schreibt er: "Ist die Abscheidung und Nutzung bzw. Speicherung von CO2 insgesamt günstiger als die Vermeidung, ist sie vorzugswürdig."

Geht es nach Dürr, soll außerdem die EU dem Beispiel der Schweiz folgen und in aller Welt dort in den Klimaschutz investieren, wo pro Euro der größte Effekt zu erzielen ist. Entsprechende Projekte stehen inzwischen in der Schweiz selbst in der Kritik, weil sie meist auf eine wenig wirksame Kompensation von CO2-Emissionen hinauslaufen.

 

Ergänzung um 17 Uhr: Am Mittwochnachmittag antwortete das Abgeordnetenbüro von Christian Dürr auf mehrere am Vortag gestellte Anfragen von Klimareporter°. Das Positionspapier sei im September verfasst und interessierten Verbändevertretern und Journalisten zur Verfügung gestellt worden, teilt das Büro mit. Es handle sich um einen energiepolitischen Debattenbeitrag des Fraktionsvorsitzenden.

Die im Papier angesprochenen Probleme und Ideen beschäftigten zudem die Energiepolitiker der FDP-Fraktion, heißt es weiter. Selbstverständlich spielten diese Ideen eine Rolle in den Gesprächen der FDP-Fraktion mit den Koalitionspartnern über Maßnahmen, die die Energieversorgung langfristig sichern, die Energiepreise auf ein wettbewerbsfähiges Niveau senken und den Klimaschutz gewährleisten sollten.

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