Im Nachrichtenstrudel der multiplen Krisen droht das eine oder andere unterzugehen. Dazu zählt unter anderem, dass die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verordnung über die Wiederherstellung der Natur auf Messers Schneide steht.

 

Lützerath und Dannenröder Forst sind nichts verglichen mit dem anhaltenden und konsequenzlosen Verursachen von Umweltschäden, das ein Scheitern der Verordnung zur Folge hätte.

Und doch droht das Vorhaben zu scheitern – auf Betreiben der Europäischen Volkspartei und ihrer christdemokratischen Abgeordneten im Europaparlament sowie deren Verbündeten aus der Agrarindustrie.

Dabei würde die Verordnung einen Meilenstein in der Biodiversitätspolitik darstellen, weil erstmals rechtlich bindende Ziele zur Wiederherstellung der Natur in den EU-Staaten formuliert und eingeführt würden. Es wäre zusätzlich ein wirtschaftlicher Gewinn für Europa, einschließlich seiner Landwirtschaft.

Es ist deshalb höchste Zeit für ein paar grundlegende Fakten, die zeigen, warum das Gesetz dringend gebraucht wird und warum viele Gegenargumente auf Desinformation beruhen.

Fünf Gründe für das Gesetz

Argument eins: Die Wiederherstellung der Natur sowie effektiver Naturschutz sind kein luxuriöser Zeitvertreib. Denn der Zustand der Natur in Europa verschlechtert sich drastisch. Im aktuellen Bericht zum Zustand der Natur in den EU-Staaten ist festgehalten, dass sich bereits mehr als 80 Prozent der europäischen Ökosysteme in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand befinden.

Bild: H. Schild-Vogel

Iven Froese

ist Analyst im Bereich Biodiversität und Naturschutz beim Thinktank Adelphi in Berlin. Er arbeitet unter anderem zur Koexistenz von großen Beute­greifern und Menschen. Froese studierte Integriertes Ressourcen­management an der Berliner Humboldt-Universität mit Fokus auf Mensch-Natur-Inter­aktion und ökologische Ökonomie.

Laut der halbstaatlichen Weltnaturschutzunion IUCN ist derzeit fast jede vierte Spezies in Europa vom Aussterben bedroht. Allein in Deutschland haben wir seit 1970 rund 75 Prozent der Biomasse fliegender Insekten verloren!

Die Verordnung schlägt angesichts der aktuellen Geschwindigkeit des Habitatverlusts und Artensterbens wirksame übergeordnete Ziele vor. 20 Prozent der degradierten Land- und Meeresflächen der EU sollen bis 2030 wiederhergestellt werden. Bis 2050 sollen alle diese Gebiete wiederhergestellt sein, auch Feuchtgebiete, Wälder sowie städtische und landwirtschaftliche Ökosysteme.

Argument zwei: Die Wiederherstellung der Natur, wie sie die Verordnung vorsieht, gefährdet die Ernährungssicherheit in Europa nicht. Ganz im Gegenteil: Tatsächlich sind 84 Prozent unserer Nutzpflanzen zumindest teilweise von der Bestäubung durch Insekten abhängig.

Jene Insekten sterben jedoch in Folge der modernen Intensiv-Landwirtschaft und der Anwendung von Pestiziden aus – Stichwort Insektensterben. Um die Ernährungssicherheit in Europa langfristig gewährleisten zu können, müssen wir also dringend die Lebensräume von Bestäuberpopulationen wiederherstellen und somit deren Existenz schützen.

Argument drei: Die ökologische Wiederherstellung von Flächen schließt deren landwirtschaftliche Nutzung nicht aus. Nach der vorgeschlagenen Verordnung können auf solchen Flächen weiterhin landwirtschaftliche und andere wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt werden.

Wiederhergestellte Flächen sind keine streng geschützten, in ihrer Nutzbarkeit eingeschränkten Naturschutzgebiete. Durch das Vereinen von wirtschaftlicher Tätigkeit und Naturschutz auf einem Gebiet verfolgt die Verordnung über die Wiederherstellung der Natur das übergeordnete Ziel, ein Leben und Wirtschaften im Einklang mit der Natur zu unterstützen und zu ermöglichen.

Porträtaufnahme von Carla Klusmann.
Bild: privat

Carla Klusmann

ist Praktikantin bei Adelphi und unterstützt Projekte in der Abteilung Biodiversität und Naturschutz. Sie studierte "Ecosystem Science & Policy" am University College Dublin und war bisher an der Schnitt­stelle von Biodiversitäts­forschung, -politik und Öffentlichkeit tätig.

Argument vier: Auch die Wiederherstellung sogenannter Landschaftselemente schließt eine landwirtschaftliche Nutzung solcher Flächen nicht aus. Die Verordnung sieht vor, die naturverträgliche Vegetationsdecke auf landwirtschaftlichen Flächen in der EU von derzeit sieben Prozent auf zehn Prozent zu erhöhen, um die biologische Vielfalt zu erhalten und zu fördern.

Werden also zehn Prozent der Agrarflächen unbrauchbar? Nein. Zu den Landschaftselementen einer naturverträglichen Vegetationsdecke gehören zum Beispiel Streuobstwiesen oder Hecken.

Argument fünf: Die Wiederherstellung der Natur ist von zentraler Bedeutung für die Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel. Diese Anpassung müssen Europas Landwirte ohnehin bewältigen, um sich gegen die veränderten klimatischen Bedingungen zu rüsten. Nach Angaben des Europäischen Parlaments sind die größten Auswirkungen von langanhaltenden Dürreperioden gerade auf Ackerland zu beobachten.

Degradierte Böden können extremen Wetterereignissen nicht standhalten. Und diese werden laut dem Weltklimarat IPCC in den kommenden Jahrzehnten immer häufiger auftreten. Wir müssen unsere Nahrungsmittelproduktion also jetzt schon klimaresilienter gestalten. Dazu gehören die Wiederherstellung degradierter Böden und Ökosysteme, die Vermeidung von Monokulturen im Anbau sowie die Umstellung auf eine grundsätzlich biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft.

Abwarten, bis noch mehr Höfe aufgegeben haben?

Mehr als 1.400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihre Unterstützung für das vorgeschlagene Gesetz erklärt. Ebenso hat sich die IUCN in einem Schreiben an EU-Präsidentin Ursula von der Leyen und an die schwedische EU-Ratspräsidentschaft gewandt, um die EU-Institutionen aufzufordern, eine ambitionierte Verordnung zur Wiederherstellung der Natur zu verabschieden.

Des Weiteren haben sich 210 Organisationen aus der europäischen Zivilgesellschaft zusammengetan und gemeinsam eine Stellungnahme formuliert, in der sie an die EU-Mitgliedsstaaten, die Europäische Kommission und die Mitglieder des EU-Parlaments appellieren, bis Ende 2023 die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur anzunehmen. Dazu gehören große Umweltorganisationen wie WWF, Greenpeace und Nabu, Stiftungen wie die Bodensee-Stiftung sowie wissenschaftliche Vereinigungen wie Wetlands International und die Society for Ecological Restoration.

 

Auch mehr als 60 der größten europäischen Unternehmen, darunter Nestlé, Unilever und Ikea, haben sich für eine Verordnung zur Wiederherstellung der Natur ausgesprochen. Die konservativen Fraktionen des Europaparlaments wären gut beraten, ihnen Gehör zu schenken, statt den Interessenvertretern großer landwirtschaftlicher Unternehmen zu folgen.

Es richten sich nun alle Augen auf den Umweltausschuss des Europäischen Parlaments, der voraussichtlich am 15. Juni abstimmen wird. Zu argumentieren, Nichtstun sei die bessere Alternative, während landwirtschaftliche Existenzgrundlagen um uns herum seit Jahren reihenweise flöten gehen, ist absurd.

Mitautor:innen dieses Beitrags sind Katrina Marsden, die bei Adelphi den Bereich Biodiversität und Naturschutz leitet, und Johannes Stahl, der Multi-Stakeholder-Projekte zur Gestaltung von Umweltpolitik in Deutschland und Europa, zum Erhalt der biologischen Vielfalt und zur nachhaltigen Entwicklung bei Adelphi koordiniert.

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