Nachtaufnahme der vier Kühltürme des französischen Atomkraftwerks Cattenom
Die vier Blöcke des Atomkraftwerks Cattenom an der Mosel sind schon rund 30 Jahre in Betrieb und sollen noch einmal so lange weiterlaufen. (Foto: Frank Becker/​Pixabay)

Klimareporter°: Herr Müller, die Atomkraft könnte in der Europäischen Union eine Renaissance erleben. Frankreich und eine Reihe anderer Staaten wollen sie von der EU als "grüne Technologie" absegnen lassen, die im Rahmen des Green Deal gefördert werden kann. Kann Atomkraft das Klima retten?

Michael Müller: Nein. Der Bau neuer Atomkraftwerke käme einerseits wegen der langen Bauzeiten viel zu spät. Wir sind längst in der kritischen Phase, in der wir uns Kipppunkten im Klimasystem nähern, und die Atomenergie ist nicht in der Lage, die notwendige CO2-Reduktion zu erreichen.

Sie ist zudem systemisch auf einen möglichst hohen Verbrauch ausgerichtet und blockiert ökologische Innovationen.

Der Bundestag hat sich schon vor 30 Jahren mit der Frage beschäftigt. Obwohl die damalige Mehrheit aus CDU/CSU und FDP die Atomenergie unterstützt hat, kam die Klima-Enquetekommission sogar einstimmig zu dem Ergebnis, "dass sie für den Schutz des Klimas keinen Erfolg versprechen kann". Vielmehr komme es auf Energieeffizienz und auf erneuerbare Energien an.

Aber es ist doch unbestritten, dass Atommeiler im Betrieb kein CO2 ausstoßen.

Im Betrieb gibt es keine direkten CO2-Emissionen. Aber es gibt sie unter anderem bei Abbau und Verarbeitung von Uranerz, Anreicherung des Urans und Verarbeitung, Brennelemente-Herstellung und Transport. Weiterhin sind für den Bau von Atomkraftwerken Rohstoffe mit hohen CO2-Rucksäcken nötig.

Und es gibt auch einen sehr langen Nachlaufprozess beim Abbau des Kraftwerks und der Lagerung des Atommülls. Alle diese Emissionen müssen mit berücksichtigt werden. In einer solchen Gesamtbetrachtung ist sogar ein Erdgas-Blockheizkraftwerk deutlich günstiger als ein Atomkraftwerk.

Warum hat die Atomkraft dann noch so viele Anhänger?

In Deutschland ja nicht, auch, weil es hier seit den 1970er Jahren eine starke Anti-AKW-Bewegung gibt. Aber es gibt auch bei uns wieder einzelne Stimmen, die zur Atomenergie zurückwollen. Das hieße, Pest und Cholera miteinander zu verbinden.

In anderen Ländern ist die Lage anders. Wenn aber dort genau in die Bücher geguckt wird, dann sind die Vorteile der Atomenergie aufgeblasene Illusionen technischer Fantasten. Die steuern weiter "friedlich in die Katastrophe", wie ein Buchautor mal geschrieben hat.

Frankreich plant offenbar, sechs neue Großreaktoren bauen zu lassen. Zudem will Paris kleinere Reaktoren entwickeln, die besonders sicher sein sollen. Wenn die Anlagen so ineffizient sind, wie Sie sagen, wie kann das dann überhaupt funktionieren?

Die seit Jahrzehnten gemachten Ankündigungen von den angeblich sicheren Atomkraftwerken haben sich nirgendwo erfüllt. Aber die Reaktoren sind immer teurer geworden. Und müssten die Betreiber nachweisen, dass ein großer Unfall völlig ausgeschlossen ist, dann könnte kein einziges AKW mehr gebaut und die bestehenden müssten stillgelegt werden.

Nach Tschernobyl wollten die Atomkraft-Befürworter die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen, der Unfall wurde als Folge einer maroden Technik abgetan. Nach Fukushima kann das niemand mehr. Seitdem versuchten die Betreiber, zuerst zu überwintern, um heute die Zuspitzung der Klimakrise auszunutzen. Zuerst Laufzeitverlängerung und dann Neubau, so ist ihre Strategie.

Michael Müller

ist Bundes­vorsitzender der Natur­freunde Deutsch­lands. Der umwelt­politische SPD-Vordenker war Bundes­tags­abgeordneter und von 2005 bis 2009 Parlamentarischer Staats­sekretär im Bundes­umwelt­ministerium. Er absolvierte eine Lehre zum Stahl­beton­bauer und studierte Ingenieur­wesen, Betriebs­wirtschafts­lehre und Sozial­wissen­schaften. Müller gehört dem Heraus­geber­rat von Klima­reporter° an.

Was steckt dann dahinter?

Zum einen militärische Interessen. Frankreich und Großbritannien, das ebenfalls neue Atomkraftwerke baut, sind Atommächte. Energiefragen konnten im französischen Energieministerium nur im Beisein von Militärs behandelt werden.

Zum anderen glaubt der technische Rationalismus, der mit der ersten europäischen Moderne verbunden ist, dass die Entwicklung technischer Möglichkeiten Macht und Fortschritt sei. Diese Ideologie ist in vielen Kreisen noch ungebrochen. Aber dahinter stehen Machtinteressen, Kurzsichtigkeit und Dummheit.

Aber auch Finnland und Länder wie Polen im Osten der EU setzen auf neue AKW. Für sie gilt das militärische Argument nicht.

In Polen ist der Bau von Atomkraftwerken hochumstritten, sogar der Umweltminister trat deshalb mal zurück. Doch die nationalkonservative Regierung, der alles zuzutrauen ist, plant an der Ostsee zwei bis sechs Atommeiler.

Und in Finnland wird der neue Atommeiler in Olkiluoto, der schon vor vielen Jahren ans Netz gehen sollte, immer teurer. Er ist mit Baukosten von rund 9,5 Milliarden Euro das zweitteuerste Gebäude der Welt. Was hätte in der Zeit und mit dem Geld alles für eine solare Energieversorgung getan werden können?

In Deutschland sollen bis Ende des Jahres 2022 noch sechs AKW-Blöcke vom Netz gehen. Ergibt nicht eine gewisse Laufzeitverlängerung Sinn, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien unter den Merkel-Regierungen zu langsam war?

Die langsame Entwicklung ist in erster Linie politisches Versagen. Die neue Ampel-Mehrheit hat jetzt die Chance, es besser zu machen. Übrigens auch beim Kohleausstieg. Bei der Atomenergie würde eine Laufzeitverlängerung auf den Widerstand der Mehrheit unserer Bevölkerung treffen.

Aber es ist Zeit, nicht nur die Erneuerbaren voranzubringen, sondern die Energiewende in ihren drei Säulen voranzutreiben: Einsparen, Effizienzrevolution und Erneuerbare. Und das bitte auch mit mehr Dezentralität, Bürgerenergie und einer ökologischen Infrastruktur verbinden.

Sie befürchten keine Strom-Blackouts, wenn die Atomkraftwerke vom Netz gehen?

Nein. Aber es ist nötig, den Umbau zu beschleunigen.

Konkret: Was müsste eine Ampel-Regierung beschließen?

Die Ampel sollte die Ausbau-Deckelung für Wind- und Solarenergie im Erneuerbare-Energien-Gesetz beenden, mit einem umfassenden Investitionsprogramm eine Effizienzrevolution einleiten, bei der die Steigerung der Energie- und Ressourcenproduktivität deutlich über dem Wirtschaftswachstum liegt, und dies mit einer sozial gerechten Suffizienzpolitik verbinden. Ohne Mäßigung und Selbstbegrenzung werden wir das Klima nicht schützen können.

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