Dämmstoff an Fassade
Die Dämmung von Fassaden, richtig ausgeführt, macht Gebäude viel energieeffizienter. (Foto: Alina Kupzowa/​Pixabay)

In allen bisherigen und nun auch im neuen Energiewende-Monitoringbericht der Bundesregierung werden die mangelnden Fortschritte bei der Energieeffizienz regelmäßig beklagt. Sind die Experten blind? Ignorieren sie den weltweiten Paradigmenwechsel für mehr Energieeffizienz?

Schließlich erscheint die Effizienz in allen Szenarien und Strategien der weltweiten Klimaschutzpolitik als deus ex machina in der Formel "Energy Efficiency First", zu Deutsch "Energieeffizienz zuerst". Von der Internationalen Energieagentur IEA über die EU bis zur Bundesregierung verbreitet sich die faszinierende Botschaft, dass etwa 50 Prozent der CO2-Emissionsminderungen bis 2030 durch Energieeffizienz erreicht werden können. Na endlich, möchte man rufen!

Nach Jahrzehnten des Tiefschlafs schien der "schlafende Riese Energieeffizienz", wie es auch Sigmar Gabriel (SPD) zu seiner Zeit als Wirtschaftsminister ausgedrückt hat, zu erwachen. Schließlich hatten die Altvorderen der Energieeffizienz wie "Effizienzvisionär" Amory Lovins oder "Passivhaus-Papst" Wolfgang Feist, gefolgt von den einschlägigen Thinktanks wie dem amerikanischen ACEEE und dem europäischen ECEEE, Vereinigungen wie der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz (Deneff) und nicht zuletzt dem Wuppertal Institut immer wieder Analysen über das riesige Potenzial und die ökonomischen Vorteile der Energieeffizienz vorgelegt.

Energieeffizienz in aller Munde – aber nur dort

Zeigen nicht nationale wie internationale Klimaschutz-Szenarien, dass eine vollständige Dekarbonisierung und ein zu 100 Prozent erneuerbares Energiesystem überhaupt erst möglich und finanzierbar werden, wenn der Energieeffizienz tatsächlich höchste Priorität eingeräumt wird? Zweifellos ist es ein Sieg kühner Köpfe und unbestechlicher Wissenschaft, des Engagements gegen Monopolmacht und der unternehmerischen Hartnäckigkeit, dass das Prinzip "Energy Efficiency First" heute zumindest rhetorisch beim Mainstream angelangt ist. Aber das könnte sich als Pyrrhussieg herausstellen, wenn weiterhin so wenig geschieht.

Porträtfoto Peter Hennicke
 

Zur Person

Der Ökonom Peter Hennicke wurde 1992 Direktor der Abteilung Energie am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, das er von 2000 bis 2008 als Präsident leitete. 2014 wurde er in den globalen Thinktank Club of Rome aufgenommen.

Porträtfoto Stefan Thomas

Zur Person

Der Physiker Stefan Thomas leitet die Abteilung Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. (Fotos: Wuppertal Institut)

Effizienztechniken zu entwickeln sowie das umfangreiche Effizienzpotenzial und attraktive Nutzen-Kosten-Relationen in allen Sektoren aufzuzeigen ist weiter notwendig. Deutschland könnte sein Ziel, den Primärenergieverbrauch bis 2050 zu halbieren, schon zehn Jahre früher erreichen, wenn bei jedem Neubau von Gebäuden, Anlagen, Fahrzeugen und Elektrogeräten, bei jeder Renovierung immer die energieeffizienteste Lösung gewählt würde. Und das wäre in den meisten Fällen auch noch wirtschaftlich. Dieses Potenzial nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu heben ist ungleich schwieriger.

Die EU hat gerade ihr freiwilliges Effizienzziel für 2030 auf 32,5 Prozent angehoben. Gut so! Aber das Europäische Parlament wollte verbindliche 40 Prozent – während die Bundesregierung mit der Forderung nach nur 30 Prozent auf der Bremse stand. Und das, obwohl die Verbraucherinnen und Verbraucher und die Volkswirtschaft insgesamt einen Gewinn von dem höheren Ziel hätten. Sogar die öffentlichen Haushalte in der EU würden im Jahr 2030 um bis zu 80 Milliarden Euro entlastet, in Deutschland um 13 Milliarden Euro.

Kollektive Beruhigungstherapie

Der Streit um Ziele verkommt zur Symbolpolitik, wenn die Wege zum Ziel und die Nachverfolgung der Prozesse nicht glasklar mitbeschlossen werden – in diesem Fall durch ein Effizienz- oder Klimaschutzgesetz.

Denn Fakt ist: Die Gründe für eine echte Effizienzrevolution werden immer überzeugender und die Energiesparziele immer anspruchsvoller, aber die Umsetzungslücke wird nicht kleiner. Woran liegt das?

Auf Politiker, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wirken die Verheißungen der Energieeffizienz wie eine kollektive Beruhigungstherapie. Zusammen mit der sensationellen Kostensenkung bei Strom aus Wind und Sonne scheint sogar das Zwei-Grad-Ziel mühelos erreichbar zu sein – trotz der mächtigen fossilen Bremser. Warum also noch eine beschwerliche sozial-ökologische Transformation planen, warum die Komfortzone aufgeben und nachhaltigeres Produzieren und Konsumieren durchsetzen?

Das Problem ist: Die bisher vorherrschende bloße "Willkommenskultur" für Sonne, Wind und Energieeffizienz macht den Realitätscheck bei fehlendem Tatendrang umso schmerzhafter. Es fehlt an einer "Ambitionskultur der Umsetzung". Deutschland steht zwar bei weltweiten Rankings zur Energieeffizienz mit an der Spitze. Aber selbst beim Effizienzweltmeister klafft zwischen den offiziellen Sparzielen für 2020 und dem tatsächlichen Fortschritt in allen Sektoren eine große Lücke, die bis 2030 und 2050 immer noch größer wird, wenn sich politisch nichts ändert.

Diese "Ambitionskultur der Umsetzung" verlangt neues Nachdenken über

  • eine "Ökonomie des Vermeidens" (von Energieverbrauch),
  • eine praxisorientierte Energieeffizienz-Strategie mit zielgerichteten und ehrgeizigen "Politikpaketen" und
  • eine "polyzentrische Governance" der Energiesparpolitik mit klarer Prozess- und Steuerungsverantwortung.

Und sie verlangt auch im Gebäudebereich ein kräftiges Anreizprogramm, damit die Hemmnisse der energetischen Sanierung überwunden und die Vorteile – eine hohe Selbstfinanzierungsquote für den Bundeshaushalt und umfangreiche Beschäftigungseffekte – wirklich nutzbar gemacht werden können.

Den gesamten Primärenergieverbrauch in einem Hightech-Land wie Deutschland bis 2050 zu halbieren und gleichzeitig die Lebensqualität aller Menschen in allen Lebensbereichen zu sichern, ist eine Jahrhundertaufgabe ohne historisches Beispiel.

Wie kann eine "Ökonomie des Vermeidens" mehr Wohlstand schaffen im Vergleich zu dem von Hans Christoph Binswanger beschriebenen "Zwang und Drang" nach unqualifiziertem, rein monetärem Wirtschaftswachstum?

Vier Strategien einer "Ambitionskultur"

Damit dies gelingt, müssen vier Strategien gleichzeitig verfolgt werden:

Erstens muss ein offensiver gesellschaftlicher Dialog darüber geführt werden, dass anspruchsvolle absolute Energiesparziele keine "Nice to have"-Politik sind, sondern eine unbedingte Notwendigkeit. Denn ein halbierter Energieverbrauch ist zwingend nötig für ausreichenden Klimaschutz, für weniger Importabhängigkeit, für vorbeugende Krisen- und Friedenspolitik, für Energiekostensenkung mit vollständig erneuerbarem Energieangebot und für Gesundheitsschutz und die Vermeidung von tausenden vorzeitigen Sterbefällen.

Das EU-Projekt "Combi" unter Konsortialführung des Wuppertal Instituts hat eine Vielzahl "multipler Benefits" einer Energiesparstrategie aufgelistet und für alle EU-Staaten bis zum Jahr 2030 quantifiziert und nach Möglichkeit monetarisiert. Einige der Vorteile, die in dieser bahnbrechenden Studie nachgewiesen wurden, sind:

  • enorme Gesundheitseffekte, zum Beispiel die drastische Senkung vorzeitiger Todesfälle,
  • die Einsparung von 850 Millionen Tonnen Material,
  • ein qualitatives zusätzliches Wirtschaftswachstum von einem Prozent pro Jahr und
  • reduzierte Energieimportkosten von 48 Milliarden Euro.

Zweitens muss vermieden werden, dass Wirtschafts- und Wohlstandswachstum sowie Rebound-Effekte die Energie- und Ressourceneinsparung, die durch maximale Effizienzsteigerung bei Geräten, Fahrzeugen, Prozessen und Gebäuden erzielt wurde, in der Gesamtbilanz wieder zunichtemachen. Effizienzpolitik in Suffizienzpolitik zu integrieren, kann dies verhindern.

Kernbestandteile einer flankierenden Suffizienzpolitik sind:

  • ambitionierte Mengenbegrenzung etwa durch Obergrenzen des Energie- und Ressourcenverbrauchs für eine Energiedienstleistung oder durch Bonus-Malus-Systeme,
  • eine ökologische Steuerreform,
  • Anreize für nachhaltigere Lebens- und Produktionsstile sowie Wohnformen,
  • die massive Förderung sozialer Dienstleistungen,
  • Aufklärung und Bildung.

Wir brauchen auch einen gesellschaftlichen Konsens darüber, welche grünen Geschäftsfelder rascher wachsen müssen – zum Beispiel erneuerbare Energien, Recycling, Energie- und Ressourceneffizienz, soziale Dienstleistungen, nachhaltige Mobilität – und wie konventionelle Risikobereiche – zum Beispiel der fossil-nukleare Industriekomplex und allen voran die Braunkohle – zur Diversifizierung gedrängt und sozial verträglich aus dem Markt gesteuert werden können.

Drittens muss der Einsatz der Mittel grundsätzlich überdacht werden. Mit geschätzt mehr als 100 Instrumenten und Maßnahmen bemühen sich insgesamt vielleicht 500 Experten in Bundes- und Landesministerin, in der Deutschen Energie-Agentur (Dena), in der Bundesanstalt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) oder in landes- und kommuneneigenen Energieagenturen, die beschlossenen Energiesparziele erreichbar zu machen.

Die gesamtgesellschaftliche Wirkung ist leider nur mäßig, trotz wachsender Kompetenzen und des zweifellos vorhandenen guten Willens. Ein wesentlicher Teil der gigantischen Chancen einer ehrgeizigen Energiesparpolitik bleibt daher jedes Jahr ungenutzt – in Geld ausgedrückt sind das viele Milliarden Euro pro Jahr.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass die bisher eingesetzten Mittel der Energiesparpolitik – Anreize, Ordnungsrecht und Information, oder auf Englisch bildhafter "carrots, sticks and tambourines" – sowie ein relativ kleiner Expertenpool (ergänzt durch Einzelmaßnahmen) ausreichen, um die klaffende Energiesparlücke zu schließen.

Ein grundsätzliches Überdenken des Maßnahmen- und Umsetzungsdesigns ist notwendig, um die Energiesparziele des Energiewendebeschlusses von 2011 zu erreichen. Dänemark zeigt, dass es geht: Dort werden jährlich mehr als zwei Prozent des Energieverbrauchs durch Energieeffizienzmaßnahmen eingespart.

Viertens bedarf es daher eines neuen Ordnungsrahmens zur Überwindung der Barrieren für einen funktionsfähigen Energiedienstleistungsmarkt, zur Herstellung von Markttransparenz und für eine gesicherte Zielerfüllung. Schließlich haben wir es mit Millionen Akteuren und hunderten teils konkurrierenden Technologien und mit einer Vielzahl von Hemmnissen zu tun – und mit Marktversagen.

Dieser neue Ordnungsrahmen wird hier nach einem Konzept des Wuppertal Instituts "polyzentrische Governance" genannt. Gemeint ist damit, dass eine neu zu schaffende Bundeseffizienzagentur (BAEff) ausgestattet wird mit

  • dem politischen Mandat, die Prozess- und Steuerungsverantwortung für das Erreichen der Energiesparziele zu übernehmen,
  • einem ausreichenden Expertenpool und
  • einem angemessenen Anreizbudget.

Letzteres könnte ein Energieeffizienzfonds liefern, der jährlich mit fünf Milliarden Euro gefüllt wird, was in etwa einer Verdopplung der heutigen Haushaltsmittel für Energieeffizienz entspricht.

"Polyzentrisch" soll die Steuerung sein, weil es der Koordinierung und Unterstützung einer Vielzahl dezentraler Akteure – Landesministerien, Energieagenturen, Stadt- und Regionalplanungen – sowie der Etablierung von Unternehmensnetzwerken bedarf, um dieses anspruchsvolle Gesamtprojekt in die Tat umzusetzen.

2.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesnetzagentur kümmern sich (zu Recht) um das Energie-Angebot und die Netzsysteme, hinzu kommen einige zehntausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Energieanbieter. Dass die weitaus komplexere Energie-Nachfrage mit nur einigen hundert Experten bis 2050 nicht in Richtung Halbierung "gesteuert" werden kann, sollte eigentlich auch denen einleuchten, die reflexhaft bei jeder neuen und sachgerechten Bundesinstitution "Bürokratie und Dirigismus" rufen.

Die "Bundeseffizienzagentur" entspricht der Forderung der Expertenkommission zum Monitoringprozess nach "einem grundsätzlichen Überdenken des Maßnahmendesigns" und der "Einrichtung wirkungsvoller Institutionen". Sie sollte deshalb in dem von der Bundesregierung angekündigten Klimaschutzgesetz verankert werden.

Das Nichtstun wird schon bald richtig teuer

Bei der Energiesparpolitik nicht oder nur zögerlich zu handeln bedeutet, gewaltige Chancen für die Gesellschaft, für die Wirtschaft und für die Ökologie zu vergeben. Aber es kommt noch viel schlimmer: Die Zögerlichkeit wird den Bundeshaushalt bald jedes Jahr Milliarden kosten.

Denn wegen verpflichtender nationaler CO2-Minderungziele im Rahmen der EU muss die Bundesrepublik bei Nichterfüllung von anderen EU-Ländern CO2-Zertifikate zukaufen. Gehen 50 Prozent der unerfüllten Reduktionspflichten auf das Konto "unterlassener Effizienzsteigerung", dann kann dies im kommenden Jahrzehnt nach einer Rechnung des Öko-Instituts zwischen 2,5 und 15 Milliarden Euro pro Jahr für Zertifikatszukäufe kosten.

Wollen wir uns diese Finanzrisiken wirklich leisten?

Anzeige