Die Kuppel des Kernkraftwerks Neckarwestheim hinter dem Sicherheitszaun.
Das AKW Neckarwestheim bei Heilbronn gehört zu den letzten, die Ende 2022 vom Netz gehen. (Foto: Felix König/​Wikimedia Commons)

Seit 2011 und noch bis 2022 läuft die deutsche Atomkraft aus – genauer gesagt: die Erzeugung von Strom mithilfe per Kernspaltung erzeugter Wärme. "Moderne" Kernenergie funktioniert im Kern genauso simpel wie fossile Stromerzeuger – der Unterschied ist nur die Wärmequelle.

Die ist bei Atomkraftwerken zwar klimapolitisch nicht so bedenklich, dafür aber viel zu riskant und mit hunderttausend Jahre andauernden Altlasten behaftet. Strom kann man umweltverträglicher und preiswerter haben.

In sonnenreichen Gegenden erzeugt Photovoltaik Strom schon für zwei Cent je Kilowattstunde. Damit kann auch kein AKW-Strom mithalten. Müsste Atomstrom zudem alle gesellschaftlichen Kosten tragen, würde die Kilowattstunde ab Kraftwerk 25 bis 39 Cent kosten, errechnete das Forum Sozial-Ökologische Marktwirtschaft (FÖS) in einer Studie.

Erneuerbare und Atomkraft hängen jedoch enger zusammen, als man gemeinhin annimmt. Als Deutschland den Ausstiegsbeschluss fasste, erlebten Wind- und Sonnenstrom gerade ihre beste Zeit: Von 2010 bis 2012 kamen jährlich 9.000 bis 10.000 Megawatt Windkraft und Photovoltaik hinzu.

Nahezu folgerichtig plante die damalige schwarz-gelbe Regierung, als Ersatz für die abzuschaltenden AKW auch den Anteil der Erneuerbaren an der Stromversorgung zu verdoppeln – von damals 17 auf 35 Prozent um 2020.

Heute decken Erneuerbare sogar schon 45 Prozent des Stromverbrauchs ab. Der Atomausstieg wurde bisher deutlich überkompensiert: Seit 2010 sank die Erzeugung aus Atomkraftwerken um 76 Terawattstunden (Milliarden Kilowattstunden), zugleich kamen aber 150 Terawattstunden Ökostrom dazu.

Der hinausgezögerte Kohleausstieg sorgte parallel für ein enormes Stromüberangebot. Zeitweise exportierte Deutschland jede zehnte erzeugte Kilowattstunde. 2019, vor dem Corona-Einbruch, lag der Stromüberschuss noch bei gut 30 Terawattstunden. Daraus könnte wegfallender Atomstrom ersetzt werden, aber nur zum Teil.

Denn im Vor-Pandemie-Jahr 2019 kamen aus den AKW noch rund 75 Terawattstunden Strom. Um das zu ersetzen, reicht das Abschmelzen des Exports nicht. Aus Klimaschutzgründen wäre es zudem am besten, wenn Atomstrom eins zu eins durch Ökostrom ersetzt würde.

Das Problem dabei: AKW erzeugen im Jahr rund 7.000 Stunden Strom, Photovoltaik kommt hierzulande auf 1.000 und Windkraft an Land auf gut 2.000 Jahresbetriebsstunden.

Um die 8.500 Megawatt wegfallenden Atomstrom zu ersetzen, ist also ein Mehrfaches an Erneuerbaren-Kapazität nötig. Der Ausbau der Windkraft auf See fällt für 2021 und 2022 aber weitgehend weg: Schon jetzt ist klar, dass offshore nicht viel neue Windkraftwerke in Betrieb gehen.

Nicht die Sicherheit leidet, sondern der Klimaschutz

Denkfabriken wie Agora Energiewende verlangen – vor allem wegen des Klimaschutzes – so ziemlich ab sofort einen Zubau von 10.000 Megawatt Photovoltaik und 5.000 bis 6.000 Megawatt Windkraft an Land, und das jedes Jahr. Damit könnten, grob gerechnet, um die 20 Terawattstunden Strom erzeugt werden, in den beiden Atomabschaltjahren 2021 und 2022 addiert also 40 Terawattstunden – zusammen mit dem sinkenden Stromexport ließe sich der Atomstrom so rechnerisch in etwa ersetzen.

Auch für Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende, muss in den kommenden Monaten der Ausbau neuer Wind- und Solaranlagen "massiv beschleunigt" werden, um die wegfallenden Atomstrommengen durch Erneuerbare zu kompensieren, wie der Thinktank im Vorfeld des Fukushima-Jubiläums mitteilte.

Diese Ausbauziele werden allerdings in den kommenden beiden Jahren nie und nimmer erreicht. Dazu sind vor allem die Hemmnisse für Windkraft an Land zu groß – und die sind so schnell auch nicht beiseite zu räumen.

Verschärft wird das durch den steigenden Bedarf an Ökostrom: für E-Mobilität, die Herstellung von "grünem" Wasserstoff und andere Dekarbonisierungstechnologien. Das Energieberatungsunternehmen EUPD Research sagt in einer von der Solarbranche unterstützten Studie voraus, dass von 2018 bis 2030 der Stromverbrauch in Deutschland jährlich um 1,5 Prozent ansteigt. Für 2023 rechnet EUPD schon mit einer Lücke von 46 Terawattstunden.

Für Simon Göß vom Berliner Beratungsunternehmen Energy Brainpool sind die Prognosen über den Strommarkt für die nächsten Jahre mit großen Unsicherheiten behaftet. "Abhängig von den jeweiligen Annahmen kommen wir zum Ergebnis, dass für Deutschland in der Zeit von 2022 bis 2025 Stromimporte recht wahrscheinlich sind – und zwar im Bereich von zehn bis 30 Terawattstunden jährlich."

Damit muss man schon rechnen, sagt Göß, sofern es keinen stärkeren Ausbau der Erneuerbaren gibt und die Wirtschaft wieder anzieht. Auch bei einer zügigen Entwicklung der Sektorenkoppplung werde sich die Stromlücke vergrößern.

Für den Energieexperten findet sich der Atomausstieg auch bereits in der Entwicklung des Großhandelspreises für Strom wieder. Anfang 2020, vor der Coronakrise, lag der Preis für eine Kilowattstunde noch bei etwas über 4,5 Cent. Schon jetzt kann man an der Strombörse in Leipzig zum Beispiel Grundlaststrom zur Lieferung im Jahr 2023 bestellen – für rund 5,5 Cent.

Hochfahren der fossilen Kraftwerke fraglich

Für Göß hat der Markt – das sind die Erzeuger, Händler und Großkunden – mit dem derzeitigen Preisniveau die Entwicklung schon vorweggenommen. "Der Atomausstieg und der Ausbau der Erneuerbaren sind schon eingepreist – zumindest bis 2023/24." Starke Veränderungen der Preise seien nie ausgeschlossen, der Trend nach oben sei aber eindeutig, auch getrieben durch die Entwicklung der CO2-Preise.

Generell droht der Atomausstieg die ohnehin entstehende Lücke beim Ökostrom zu vergrößern. Vor einem "Blackout" oder einem Strommangel braucht man sich allerdings nicht zu fürchten. Auch Graichen von Agora Energiewende meint, um die Versorgungssicherheit müssten wir uns keine Sorgen machen.

Ein Grund dafür: Landauf, landab steht eine Vielzahl wenig ausgelasteter Gas- und Kohlekraftwerke bereit, die nur allzu gern in die Stromlücke springen. Insgeheim rechnen vor allem die Kohleverstromer damit, dass der Atomausstieg ihnen einen, wenn auch letzten Aufschwung beschert.

Mit der Folge allerdings, dass dann der Klimaschutz Schaden erleidet. Graichen geht von kurzfristig steigenden CO2-Emissionen aus, wenn der Ausbau bei Wind und Sonne weiter so unter den Klimavorgaben bleibt.

Ob wegen des Atomausstiegs die fossile Stromerzeugung in Deutschland allerdings noch einmal stark hochgefahren wird, glaubt Energieexperte Göß nicht.

"Mehr fossile Erzeugung wird es in den nächsten Jahren schon geben, vor allem wenn die Erneuerbaren nicht so ausgebaut werden, wie es die Klimaziele erfordern." Dann werde die CO2-Intensität der Stromerzeugung für ein paar Jahre ansteigen – aber ein richtiges Hochfahren der fossilen Kraftwerke, besonders der Kohle, werde es wohl nicht geben.

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