Abfüllanlage für Tomatenmark - schon gefüllte, aber noch nicht verschlossene Gläser laufen vorbei.
Auch Hersteller von Tomatenmark will die große Koalition beim CO2-Preis entlasten. (Foto: Lena Wolkowa/​Shutterstock)

Klimareporter°: Frau Fiedler, seit Jahresanfang ist der nationale Emissionshandel in Kraft. Unternehmen, die fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl oder Gas nutzen und nicht im EU-Emissionshandel eingebunden sind, müssen pro Tonne CO2 25 Euro mehr bezahlen. Ob das klimapolitisch wirkt, ist noch gar nicht klar. Um dennoch Unternehmen vor dem CO2-Preis zu schützen, beschloss die Regierung kürzlich die sogenannte Carbon-Leakage-Verordnung. Ist das nicht ein wenig voreilig?

Swantje Fiedler: Die Verordnung möglichst frühzeitig zu beschließen ist grundsätzlich richtig. Die Unternehmen brauchen beim CO2-Preis Planungssicherheit. Sie sollten möglichst verlässlich kalkulieren können, welche Investition wie viel an CO2-Kosten verursacht oder einspart. Das ist wichtig für einen wirksamen Klimaschutzanreiz.

Allerdings deckt der nationale CO2-Preis weniger als 20 Prozent der energiebedingten CO2-Emissionen in der Industrie ab, weil ein Großteil bereits im Europäischen Emissionshandelssystem ETS erfasst ist. Was dort gelistet ist, muss den nationalen Preis nicht bezahlen.

Unternehmen sind es außerdem gewohnt, dass Preise für fossile Brennstoffe schwanken. Hier wird es durch den geringen CO2-Preisaufschlag zunächst nur geringfügig teurer: Die Mehrkosten bewegen sich anfangs zwischen sechs und sieben Cent je Liter bei Mineralölen und um die 0,5 Cent je Kilowattstunde bei Erdgas.

Zudem werden die Unternehmen bereits an anderer Stelle entlastet: Die Einnahmen aus dem nationalen CO2-Preis werden bekanntlich größtenteils verwendet, um die EEG-Umlage zu senken – und das gilt ebenfalls seit Anfang des Jahres. Dadurch hat die Industrie allein in diesem Jahr einen finanziellen Vorteil von zwei Milliarden Euro.

Als Grund für die Verordnung nennt das Umweltministerium, dass Unternehmen, die stark im internationalen Wettbewerb stehen, die CO2-Bepreisung nicht auf die Kunden abwälzen können, wenn ausländische Wettbewerber keiner vergleichbaren CO2-Bepreisung unterliegen. Dann bestehe die Gefahr, dass Produktion ins Ausland abwandert und dort zu höheren Emissionen führt – das sogenannte "Carbon Leakage". Für wie groß halten Sie die Gefahr?

Die Gefahr des Carbon Leakage wird immer wieder als Grund angeführt, die Industrie von allen möglichen Preisinstrumenten auszunehmen. Im EU-Emissionshandel gibt es deshalb einen Großteil der Zertifikate kostenlos, hierzulande kommen Ausnahmen bei Strompreisbestandteilen wie der EEG-Umlage hinzu.

Porträtaufnahme von Swantje Fiedler.
Foto: FÖS

Swantje Fiedler

hat Politik- und Wirtschafts­wissen­schaften studiert und ist wissen­schaftliche Leiterin beim Forum Ökologisch-Soziale Markt­wirtschaft (FÖS). Bei dem Thinktank befasst sie sich seit mehr als zehn Jahren mit der Konzeption und Wirkungs­analyse umwelt­politischer Instrumente und Strategien, speziell dem Abbau umwelt­schädlicher Subventionen und der Ausgestaltung markt­wirtschaft­licher Instrumente in der Energie­politik.

Beim nationalen CO2-Preis führen wir die Diskussion jetzt wieder. Dabei wird gern außen vor gelassen, dass in anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas schon längst deutlich höhere CO2-Preise in den Bereichen Wärme und Verkehr gelten.

Theoretisch mag es diese Abwanderungsgefahr aufgrund von Energie- und CO2-Preisen geben. Einen belastbaren Beweis dafür gibt es aber nicht.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des DIW und des Ifo-Instituts hat gezeigt, dass vom nationalen Brennstoffemissionshandel kein erhöhtes Risiko für Carbon Leakage ausgeht. Nur in sehr wenigen Bereichen werden CO2-Kosten in einer Höhe entstehen, die eine Abwanderung von Unternehmen zur Folge haben könnte.

Zudem gibt es sehr viele Faktoren, die die Standortwahl von Unternehmen beeinflussen. Deutschland gehört ja zu den Exportweltmeistern und ist international auch mit einem höheren Energiepreisniveau sehr wettbewerbsfähig.

Am Entwurf der Carbon-Leakage-Verordnung wurde kritisiert, dass nicht nur energieintensive Branchen wie Zement, Kalk, Glas und Ziegel von der CO2-Bepreisung entlastet werden sollten, sondern auch Branchen, die Mehl, Grieß, Kartoffelprodukte, Milchpulver, Molke, Alkohol, Tomatenmark und Backhefen herstellen. Ist es in der nun verabschiedeten Verordnung dabei geblieben?

Ja, grundsätzlich schon. Die Verordnung sieht vor, dass alle Branchen entlastet werden können, die auch im EU-Emissionshandel kostenlose Zertifikate bekommen. Das ist ein sehr breiter Ansatz, der über 90 Prozent der Industrieemissionen abdeckt.

Ausnahmen sollten besser auf Sektoren beschränkt werden, die stark im internationalen Wettbewerb stehen und bei denen tatsächlich ein Risiko für Carbon Leakage besteht. Sinnvoller, als die EU-ETS-Liste pauschal zu übernehmen, wäre es daher, sich auf die realen CO2-Kosten der Unternehmen in Deutschland zu stützen.

Tatsächlich könnte die Branchenliste aber sogar noch erweitert werden. Die Bundesregierung hat im aktuellen Verordnungsentwurf sehr weiche Regeln formuliert, durch die nachträglich noch diverse weitere Branchen begünstigt werden könnten.

Jede Ausnahme führt aber dazu, dass das Preissignal beim Unternehmen und schließlich beim Preis der Produkte und Dienstleistungen nicht mehr richtig ankommt. Das führt dazu, dass das ganze Instrument der CO2-Bepreisung an entscheidenden Stellen praktisch außer Kraft gesetzt wird.

Ich plädiere klar dafür, nicht von vornherein so umfassend Ausnahmen zu gewähren. Sollte es tatsächlich zu übermäßigen Belastungen kommen, kann immer noch nachgebessert werden

Die Unternehmen sollen nicht zu 100 Prozent von den zusätzlichen Kosten der CO2-Bepreisung entlastet werden, sondern anteilig zu 65 bis 95 Prozent. Hohe Kompensationen verringern allerdings den Anreiz, CO2-Emissionen zu vermeiden. Wie bewerten Sie diese Regelung?

Ich finde es richtig, die Kompensation abzustufen: Diejenigen, die einer Branche mit größerem internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, können eine höhere Entlastung bekommen.

Die Spanne von 65 bis 95 Prozent ist aber viel zu großzügig. Da bleibt kaum noch etwas vom CO2-Preis übrig und der Klimaschutzeffekt läuft gegen null.

Hinzu kommt: In den Kabinettsverhandlungen ist die unternehmensbezogene Mindestschwelle rausgeflogen. Ursprünglich sollten Betriebe nur dann anteilig vom CO2-Preis befreit werden, wenn ihre CO2-Kosten einen bestimmten Kostenanteil überschreiten. So eine individuelle Mindestschwelle ist nötig, um gezielt die tatsächlich emissionsintensiven und also deutlich vom CO2-Preis betroffenen Unternehmen herauszufiltern.

Nun aber sollen alle Unternehmen pauschal entlastet werden, wenn sie einem Sektor aus der erwähnten EU-Liste angehören – egal, wie hoch ihre CO2-Kosten tatsächlich sind. Erst ab dem Jahr 2023 müssen sie eine niedrige Mindestschwelle erreichen, wenn sie weiterhin 65 bis 95 Prozent Kompensation haben wollen.

Bringen sie diesen Nachweis nicht, werden ihnen aber in jedem Fall 60 Prozent der Kosten erstattet. Diese pauschale Entlastung schafft wieder eine Subvention nach dem Gießkannenprinzip. So werden auch Unternehmen begünstigt, die den CO2-Preis voll bezahlen könnten und sollten.

Unterm Strich ist die Idee einer abgestuften Kompensation richtig, die Umsetzung schießt aber so weit übers Ziel hinaus, dass fast kein CO2-Preisanreiz mehr übrig bleibt.

Hat sich bei der nun verabschiedeten Verordnung gegenüber dem Entwurf aus klimapolitischer Sicht etwas verbessert?

Leider nein. In fast allen Punkten wurden gegenüber dem ersten Entwurf des Umweltministeriums nach den Verhandlungen die Ausnahmen ausgeweitet: mehr Sektoren, mehr Ausnahmen – etwa im Bereich Kraft-Wärme-Kopplung –, eben keine Mindestschwelle für Unternehmen und auch keine Anrechnung der Strompreissenkung bei der EEG-Umlage.

Es wird also außen vor gelassen, dass Unternehmen bereits einen finanziellen Vorteil durch sinkende Strompreise haben, in diesem Jahr wie gesagt in Höhe von zwei Milliarden Euro.

Zu allem Überfluss wurden auch die Anforderungen für Gegenleistungen gesenkt: Die Unternehmen müssen das Geld jetzt nur noch teilweise für wirtschaftliche Klimaschutzinvestitionen verwenden – dann, wenn es für sie finanziell ein sattes Plus bedeutet.

Um Carbon Leakage zu verhindern, will die EU im Rahmen ihres Green Deal bis 2023 ein CO2-Grenzausgleichssystem einführen. Wäre das die bessere Lösung, und wie groß sind die Chancen, dass sich die EU darauf einigt?

Ich finde die Diskussion um den Grenzausgleich wichtig und vielversprechend, weil wir damit endlich wegkommen könnten von Preisausnahmen. Was wir für effektiven Klimaschutz ohne Wettbewerbsverzerrungen aber eigentlich brauchen, ist ein weltweiter CO2-Preis.

Keinen weltweiten, aber wenigstens einen einheitlichen CO2-Preis in einem "Klimaklub", dem die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer angehören, hat kürzlich das Beratergremium des Wirtschaftsministeriums vorgeschlagen.

Das ist ein guter Ansatz, sofern der CO2-Preis ausreichend hoch ist und nicht im Gegenzug andere Energiesteuern auf fossile Brennstoffe abgeschafft oder in gleichem Umfang gesenkt werden. Bis ein wirksamer "Klimaklub" Realität ist, könnte ein klug gestalteter Grenzausgleich eine gute Alternative oder Ergänzung für den Ausgleich von internationalen Unterschieden sein.

Ich sehe eine gute Chance, dass hier auf EU-Ebene etwas kommt. Der Druck ist groß, weil wir bessere Klimaschutzanreize brauchen und auch im EU-Emissionshandel der CO2-Preis steigt.

Ich erwarte aber, dass der Grenzausgleich zunächst auf wenige Produkte oder Branchen begrenzt sein wird. Er ist vor allem ein Instrument für den CO2-Preis im europäischen Emissionshandel und nicht für die nationale Ebene.

Die Carbon-Leakage-Verordnung muss jetzt noch durch den Bundestag. Die große Koalition ist energiepolitisch kaum noch handlungsfähig, wie sich am Stillstand der Beratungen zur EEG-Novelle zeigt. Gibt es bei der Verordnung Knackpunkte, an denen sich die Koalition zerstreiten könnte?

Ich sehe eine starke Gefahr, dass unter dem Druck von Lobbyeinflüssen die großzügige Ausgestaltung sogar noch weiter gefasst und aufgeweicht wird.

Besonders wichtig ist es, dass die geplanten Anforderungen für die Gegenleistungen von Unternehmen erhalten bleiben. Vorgesehen ist, dass begünstigte Unternehmen 2023 mindestens die Hälfte der Entlastungssumme – und ab 2025 dann 80 Prozent – in Klimaschutz zu investieren haben, soweit dies wirtschaftlich finanzierbar ist.

Diese Regelung könnte die fehlenden CO2-Preis-Anreize zumindest teilweise ausgleichen. Auch muss zweifelsfrei klargemacht werden, dass die Gegenleistungen verpflichtend sind und nicht umgangen werden können.

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