
Zuerst die gute Nachricht: Das deutsche Klimaziel, Klimaneutralität bis 2045, liegt nicht auf dem Verhandlungstisch – zumindest nicht bei den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen in Berlin.
Auf wackeligen Füßen steht hingegen das schon letztes Jahr von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen angekündigte EU-Ziel. Minus 90 Prozent Treibhausgasemissionen für das Jahr 2040 würde die Kommission gern als zweites Zwischenziel gesetzlich festschreiben.
Der formelle Legislativvorschlag der Kommission verschiebt sich derzeit allerdings immer weiter nach hinten.
Nicht unbegründet ist die Sorge von EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra, die Mitgliedsstaaten könnten sich querstellen. Italien fordert eine Absenkung des Ziels auf 80 oder 85 Prozent, und auch Tschechien kritisiert den Vorschlag.
Ungarn und die Slowakei verlangen einen Aufschub des neuen Klimaziels. Frankreich und Polen wollen zuvor klären, wie das Ziel erreicht werden soll. Frankreich setzt sich etwa dafür ein, der Kernenergie eine prominentere Rolle in der EU-Klimastrategie einzuräumen.
Das 2040er Ziel geht auf einen Vorschlag des Europäischen Wissenschaftlichen Beirates zum Klimawandel von 2023 zurück. Damals hatte der Beirat argumentiert, dass eine Senkung der Emissionen bis 2040 um 90 bis 95 Prozent entscheidend sei, um die Klimarisiken abzumildern und eine nachhaltige Zukunft zu erreichen.
Noch mehr Gegenwind bekommt der Vorstoß nun auch noch von Ursula von der Leyens Parteifreund:innen aus Deutschland. Wie das Abschlusspapier der Arbeitsgruppe Energie und Klima in den Koalitionsgesprächen zeigt, unterstützt die SPD das 90-Prozent-Ziel, die Union bisher nicht.
Union will CO2-Gutschriften ermöglichen
Stattdessen fordert die Union an der Stelle im Abschlusspapier, eine "glaubwürdige CO2-Reduzierung in Partnerländern" zu ermöglichen. Damit sind CO2-Gutschriften gemeint. Deutschland könnte dann Klimaprojekte – etwa Aufforstung oder ein effizienteres Kraftwerk – im Ausland finanzieren und sich die Emissionseinsparungen anrechnen lassen.
Damit würde Deutschland vom Ziel abrücken, seine Klimaschutzziele zu Hause zu erfüllen, kritisiert Christoph Bals, Politikchef der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. "Eine Öffnung für sogenannte Artikel‑6-Zertifikate würde die Ernsthaftigkeit unserer Klimaziele und den notwendigen Innovationsanreiz hier untergraben."
Der Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens regelt die globalen CO2-Märkte – also zum Beispiel, welche Projekte Emissionszertifikate verkaufen dürfen. Insgesamt gibt es hier strengere und transparentere Richtlinien als bei dem vielfach kritisierten freiwilligen Kompensationsmarkt. Nach wie vor sind aber zahlreiche Fragen ungeklärt. Was passiert etwa mit den Zertifikaten eines Waldprojekts, wenn der Wald abbrennt?
Dennoch scheint dieser Wunsch der Union, noch bevor sich die angehende schwarz-rote Koalition darauf geeinigt hat, auf offene Ohren in der EU-Kommission zu stoßen. Dort wird nämlich händeringend nach Möglichkeiten gesucht, um den Mitgliedsländern das 90-Prozent-Ziel doch noch schmackhaft machen zu können, wie die US-Tageszeitung Politico mit Verweis auf EU-Beamte berichtete.
Diskutiert werde etwa, diese CO2-Märkte als Klimaschutzinstrument anzuerkennen. Außerdem soll laut dem Politico-Bericht die Möglichkeit einer nicht-linearen Reduktionslinie vom 2030er zum 2040er Ziel diskutiert werden. Das würde einzelnen Ländern ermöglichen, ihre CO2-Emissionen zu Beginn langsamer zu senken und im Laufe des Jahrzehnts schneller, um am Ende die 2040er Zielmarke doch noch zu erreichen.
Nach den deutschen wackeln nun die europäischen Sektorziele
Unterm Strich hieße das aber auch, dass über den gesamten Zehn-Jahres-Zeitraum mehr CO2 aus der EU in der Atmosphäre landet.
Weitere Optionen sehen eine größere Rolle von sogenannten Negativemissionen im Instrumentenmix der Europäischen Union vor. Auch eine Lockerung der Sektorziele wird erwogen.
Letzteres wäre ein weiteres Zugeständnis der EU an Deutschland. Schließlich hat die Bundesregierung schon vergangenes Jahr mit einer Reform des Klimaschutzgesetzes die Regelung aufgehoben, dass jeder Sektor – Energie, Industrie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfall – sein eigenes Klimaziel einhalten muss. Jetzt kommt es nur noch auf das Gesamtziel an.
Die EU schreibt jedoch weiterhin Sektorziele fest – in der sogenannten Effort Sharing Regulation. Auf Deutschland kommen Strafzahlungen in Milliardenhöhe zu, da vor allem die Bereiche Verkehr und Gebäude weit davon entfernt sind, die EU-Sektorziele einzuhalten.
Bei keiner der vier genannten "Flexibilisierungsoptionen" stehe bereits fest, ob sie tatsächlich im Gesetzentwurf der Kommission stehen werde, ruderte der im Politico-Artikel zitierte, nicht namentlich genannte EU-Beamte zurück. Bisher werde all das nur intern diskutiert.
Der Gesetzentwurf wird in den kommenden Wochen erwartet.
Tory-Chefin: "Klimaziel treibt Großbritannien in den Bankrott"
Im Ex-EU-Land Großbritannien hat die Oppositionsführerin Kemi Badenoch von der Conservative Party vor Kurzem das Klimaneutralitätsziel für 2050 grundsätzlich infrage gestellt. Es sei unmöglich, dieses Ziel einzuhalten, ohne das Land in den Bankrott zu treiben. Einen Gegenvorschlag oder Belege für ihre Behauptungen blieb Badenoch schuldig.
Das Ziel wurde 2019 unter Badenochs Parteikollegin Theresa May beschlossen. Die damalige Premierministerin meldete sich dann auch prompt zu Wort und konterte: "Ein Hinauszögern von Maßnahmen schadet nur der nächsten Generation und erhöht sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialen Kosten des Klimawandels."
Auch Großbritanniens größter Wirtschaftsverband CBI kritisierte Badenochs Forderung. Jetzt sei nicht die Zeit, die Chancen der grünen Wirtschaft zu verpassen.
Trotz des Gegenwinds aus der eigenen Partei und der Wirtschaft stellt Badenochs Aussage einen Bruch mit dem bisherigen Klima-Konsens der beiden britischen Volksparteien – Labour und Conservative Party – dar. Die Ankündigung der Tory-Chefin kam wohl auch nicht zufällig kurz nachdem die rechtspopulistische Partei Reform UK einen Plan vorgelegt hatte, wie sie die Klimaziele des Vereinigten Königreichs abschaffen würde.
In Deutschland hatte – abgesehen von der AfD, die den menschengemachten Klimawandel grundlegend anzweifelt – im Bundestagswahlkampf nur die FDP das Klimaziel angegriffen und für eine Verschiebung von 2045 auf 2050 geworben.
Das Argument der Liberalen, es hätte keine Klimaschutzwirkung, wenn die Bundesrepublik fünf Jahre vor der EU klimaneutral werden würde, wurde vielfach kritisiert.