Von einem Tag auf den anderen schien es plötzlich ganz einfach, grün und nachhaltig zu konsumieren. Auf dem Schweinesteak im Supermarkt glänzte ein "Klimaneutral"-Siegel, die Luxusmodemarke Gucci warb auf einmal mit Klimaneutralität und selbst der Billigflug in den Sommerurlaub – so stand es schwarz auf weiß auf dem Ticket – war klimaneutral.

Für Verbraucher:innen und Unternehmen ist die Idee gleichermaßen verlockend. Anstatt zu verzichten oder aufwändig Prozessschritte umzustellen, reicht ein bisschen Geld, um Emissionen zu kompensieren. Denn dem Klima sei es egal, wo Emissionen eingespart werden – so das Mantra.

 

"Der Begriff 'klimaneutral' auf Produkten ist nicht gesetzlich geschützt", schreibt das Umweltbundesamt auf seiner Website. Der Claim lässt demnach keine Rückschlüsse darüber zu, ob die gesamten Emissionen ausgeglichen wurden oder nur ein Teil. Ebenso bleibt offen, ob es auch beim Hersteller Bemühungen gab, Umweltbelastungen zu verringern, und über welches Klimaschutzprojekt die Kompensation stattgefunden hat.

Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch hat einen Bericht über "klimaneutrale" Produkte veröffentlicht und kommt zu dem Schluss: "Werbesiegel wie 'klimaneutral' sagen nichts über die Umweltfreundlichkeit eines Produkts aus."

Die Gefahr von Greenwashing hat auch die Europäische Kommission erkannt. Im März dieses Jahres legte sie einen Gesetzentwurf vor. Danach sollen Produkte nur noch als klimaneutral oder umweltfreundlich gelten, wenn diese Behauptung wissenschaftlich belegt werden kann.

Noch während das EU-Gesetz beraten wird, haben die großen Klimaberatungsfirmen – Climate Partner, Myclimate, South Pole – bereits reagiert und neue Label eingeführt. Jetzt steht zum Beispiel "ClimatePartner-zertifiziert" anstelle von "klimaneutral" auf diversen Produkten.

"Das ist natürlich in erster Linie eine kosmetische Veränderung", sagt Carsten Warnecke, Experte für CO2-Märkte beim New Climate Institute. "Im Hintergrund läuft vermutlich zunächst alles weiter wie bisher."

Nur sechs Prozent der Zertifikate sind wirksam

Das eigentliche Problem liegt tiefer. Weltweit kompensieren Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen ihre Emissionen über Klimaschutzprojekte. Doch während die vermeintlich klimaneutrale Produktpalette im Supermarkt immer größer wurde, wuchs auch die Skepsis gegenüber den Kompensationsprojekten.

Besonders Waldschutzprojekte gerieten in letzter Zeit heftig in die Kritik. Von ihnen stammt ein Großteil der CO2-Zertifikate, mit deren Hilfe sich Unternehmen von Netflix bis Volkswagen noch bis vor Kurzem klimafreundlich gekauft hatten.

Sie sollen zum Beispiel tropischen Regenwald vor der Abholzung retten und somit zwar kein CO2 binden, aber das Entstehen von CO2 verhindern. Wie viele Emissionen vermieden werden, beruht auf spekulativen Prognosen der Projektbetreiber:innen.

Die Prognosen sollen sich an der Rodungshistorie von Vergleichsgebieten orientieren. Je höher die spekulierte zukünftige Abholzung ist, desto mehr CO2-Zertifikate können für ein Waldschutzprojekt verkauft werden.

Eine kürzlich im Fachjournal Science erschienene Studie belegt nun, was viele Expert:innen schon längst vermutet hatten. Waldschutzprojekte vermeiden in der Regel wesentlich weniger Emissionen, als sie angeben.

Nur sechs Prozent der ausgestellten CO2-Zertifikate führten laut der Forschungsgruppe um den Umweltgeografen Thales West von der Vrije Universiteit Amsterdam tatsächlich zu einer CO2-Vermeidung. Nur bei einem Drittel der 26 untersuchten Projekte war die Abholzungsrate geringer als auf Kontrollflächen. Ein Großteil der Projekte schützte den Wald also überhaupt nicht.

"Die Projekte sind ineffektiv für den Klimaschutz, aber ökonomisch effektiv für die Betreiber", sagt der Forstwissenschaftler Michael Köhl, der nicht an der Studie beteiligt war. "Solange Projektbetreiber ihre Referenzflächen selbst auswählen können, wird sich daran nichts ändern."

Bereits im Mai dieses Jahres hatte die Wochenzeitung Die Zeit, ebenso wie die britische Tageszeitung The Guardian und der britische Reportagepool Sourcematerial, über die noch unveröffentlichten Ergebnisse der Studie berichtet. In einer groß angelegten gemeinsamen Recherche enthüllten die Journalist:innen, dass nicht nur viele Kompensationsprojekte wertlos sind, sondern das dahinterliegende System geradezu zum Betrug einlädt.

Es gibt keine gute Klimakompensation

Die Recherche und auch weitere Enthüllungen zeigten in den letzten Monaten Wirkung. Einige Konzerne haben Aussagen zu ihren Klimabilanzen, die auf Waldschutzprojekten beruhten, zurückgezogen. Der Markt für die freiwillige CO2-Kompensation ist weltweit eingebrochen.

Doch gibt es nicht auch sinnvolle Kompensationsprojekte? Im Gegensatz zu Waldschutzprojekten wird in Aufforstungs- oder Moorwiedervernässungsprojekten tatsächlich CO2 gebunden, statt nur potenzielle Emissionen zu vermeiden.

Zumindest wenn man Carsten Warnecke folgt, gibt es sie nicht, die gute Klimakompensation. Da wäre einmal das Problem der doppelten Inanspruchnahme. Nicht nur das Unternehmen, das sich die Zertifikate kauft, schreibt sich die Emissionen gut, sondern auch das Land, in dem sich das Projekt befindet. Bisher gibt es laut Warnecke keinen Mechanismus, der das verhindert.

Gleichzeitig setzen die Projekte in den Projektländern falsche Anreize. Um weiterhin Finanzströme aus dem Ausland zu garantieren, lohnt es sich für die Länder besonders, anspruchslose Klimapläne aufzustellen. Dann lässt sich gut nachweisen, dass sich die Klimaprojekte nicht mit staatlichen Bemühungen überlappen.

Falsche Anreize setzt die vermeintliche Klimaneutralität von Unternehmen oder Produkten natürlich auch bei den Konsument:innen. Ein Steak, dessen Emissionen mit wirkungslosen Zertifikaten kompensiert wurden, gibt mit dem Label "klimaneutral" den Konsument:innen dennoch das Gefühl, nachhaltig und vertretbar zu sein.

Ein spezielles Problem bei Aufforstungsprojekten ist ihr unsicheres Fortbestehen. Der Kohlenstoff, der in Erdöl- oder Erdgasreservoirs tief unter der Erde gespeichert ist, liegt dort seit Millionen von Jahren und könnte dort weitere Millionen Jahre liegen. Die Rechnung, das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas mit dem Pflanzen von Bäumen auszugleichen, geht nicht auf. Niemand kann garantieren, dass nicht in einigen Jahren über das Aufforstungsprojekt ein Waldbrand hinwegzieht.

Und wenn in 30 Jahren das Projektgebiet doch auf einmal gerodet wird, gibt es im Zweifelsfall die Initiative, die die Zertifikate ausgeschrieben hat, nicht mehr und auch kein Unternehmen, das daraufhin seine Klimabilanz korrigiert.

Unterstützen statt freikaufen

Der freiwillige CO2-Markt sei komplett unreguliert, sagt Warnecke. "Ich könnte mir heute ein CO2-Zertifikat basteln, weil ich mit dem Fahrrad in die Arbeit gefahren bin, und das über den Markt verkaufen. Niemand kontrolliert, was dort gemacht wird."

All das heißt natürlich nicht, dass Unternehmen keine Klimaschutzprojekte mehr unterstützen sollen. Das Problem ist das Narrativ. Statt sich mit dem Geld angebliche Klimaneutralität zu erkaufen, sollte es als Beitrag für Klimaschutz verstanden werden.

Zertifikate, die das belegen, existieren bereits und nennen sich "Contribution Claim", contribution steht für Beitrag. Sie können nicht auf die Klimabilanz des Unternehmens angerechnet werden. Bisher wird das Modell noch nicht großflächig genutzt, aber das Interesse daran wächst.

Das New Climate Institute selbst zahlt zum Beispiel 120 Euro für jede Tonne CO2, die die Organisation nicht vermeiden kann, in einen internen Fonds. Mit diesem Geld werden schließlich Projekte unterstützt. Der selbst gesetzte CO2-Preis soll nach und nach auf 200 Euro ansteigen. Das ist der Betrag, der laut Berechnungen des Umweltbundesamtes dem Schaden entspricht, den eine Tonne CO2 verursacht.

Wichtig sei, ergänzt Warnecke, dass das Geld nicht in sogenannte "Low-hanging fruit"-Projekte fließt. Das sind einfach umzusetzende Projekte, die das Projektland auch selbst stemmen könnte, zum Beispiel Waldschutz- oder Aufforstungsprojekte.

Das Geld sollte stattdessen in anspruchsvolle, sogenannte "High-hanging fruit"-Projekte fließen, meint der Experte. Das sind Vorhaben, die aufgrund von fehlendem Fachwissen oder hohen Kosten für das Projektland selbst nicht realisierbar wären.

Mit den Spenden werde das New Climate Institute zwar nicht klimaneutraler, betont Warnecke. Aber es werde damit zumindest so gut wie möglich seiner Verantwortung gerecht.