Wetterstation stürzt ab
Die Wellen nagen am tauenden Permafrostboden der Wiese-Insel in der arktischen Karasee. Eine russische Wetterstation stürzte 2016 ins Meer. (Foto: Iwan Misin/​WWF Russland)

Seit drei Jahrzehnten laufen die Warnungen der Klimaforscher nach dem immer gleichen Muster ab: Die Zeit rinnt uns davon, aber noch können wir den Klimawandel unter Kontrolle halten, wenn wir nur rasch den weltweiten Kohlendioxid-Ausstoß begrenzen.

Die Zeit, sie könnte inzwischen abgelaufen sein. In einem Kommentar für das Fachjournal Nature warnen Klimaforscher um Timothy Lenton, den Direktor des Instituts für globale Systeme an der britischen Universität Exeter, vor einem "planetaren Notfall". Es liege womöglich nicht mehr in unserer Hand, das Erdsystem vor dem Umkippen in einen neuen Zustand zu bewahren.

Das wäre gleichbedeutend mit einem unumkehrbaren Klimawandel. "Wir vertreten die Ansicht, dass die Zeit für einen Eingriff, um dieses Kippen zu verhindern, bereits gegen null geschrumpft sein könnte", schreiben die Wissenschaftler, darunter auch Hans Joachim Schellnhuber, der frühere Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Im Pariser Klimaabkommen haben sich die Staaten darauf verständigt, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit zu begrenzen, da schon ab dieser Schwelle größere Verwerfungen drohen. So könnten die Korallenriffe auf der Welt nahezu komplett verschwinden. Und der Meeresspiegel würde laut Weltklimarat bis zum Ende des Jahrhunderts um zehn Zentimeter höher steigen als bei einer Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad Celsius.

Modelle unterschätzen Kipppunkte

Allerdings legen die Klimaforscher um Lenton nun nahe, dass das Emissionsbudget, das uns noch zur Verfügung steht, um von jener Schwelle fernzubleiben, bereits aufgebraucht sein könnte. Als Grund führen die Wissenschaftler diverse Kipppunkte im Erdsystem an, die bislang in den Klimamodellen nur unzureichend einberechnet worden sind.

Einer davon ist der Permafrostboden: Etwa ein Sechstel der Erdoberfläche ist von gefrorenem Boden bedeckt. Allerdings taut dieser auf, und zwar in immer größerem Tempo. Die Folge: Große Mengen an Treibhausgasen gelangen in die Atmosphäre. Erst kürzlich haben Klimaforscher berechnet, dass die in den Modellen einberechnete Menge um die Hälfte zu kurz greift.

Denn nicht berücksichtigt worden war der Ausstoß von Klimagasen durch abruptes Tauen, wie es etwa an Küsten oder Flüssen vorkommt, wenn der Boden erodiert und plötzlich große Mengen an Methan und Kohlendioxid freigesetzt werden. Die Autoren um Lenton schätzen, dass das etwa 100 Milliarden Tonnen unseres Kohlendioxid-Budgets auffrisst, das uns noch bleibt, um die 1,5-Grad-Schwelle nicht zu überschreiten.

Auch der Amazonas-Regenwald gilt als Kipppunkt im Erdsystem. Wenn Abholzung und Klimawandel dem Wald zu sehr zusetzen, ist irgendwann der Punkt erreicht, ab dem er langsam aber sicher eingeht. Grund ist der Wasserkreislauf im Regenwald, der aus dem Lot gerät.

Forscher streiten sich, wo genau dieser Punkt liegt. Manche sehen ihn ab einer Entwaldung von 40 Prozent, andere, wie der US-Biologe Tom Lovejoy, bereits bei 20 Prozent. "Brandrodung, Abholzung und Klimawandel erzeugen eine negative Synergie und könnten den Wald in eine Savanne verwandeln", warnt Lovejoy.

Sollte der Amazonas-Regenwald tatsächlich nahe an seinen Kipppunkt gelangt sein, könnte das Timothy Lenton zufolge zu einem zusätzlichen Ausstoß von etwa 90 Milliarden Tonnen CO2 führen.

Dazu kämen noch einmal 110 Milliarden Tonnen CO2 durch ein Verschwinden von Teilen des borealen Waldes in Nordamerika. Aufgrund der Erderwärmung geraten immer größere Flächen in Brand, wie in diesem Sommer zu sehen war. Von einem Kohlenstoffspeicher wandle sich der Wald in eine Kohlenstoffquelle, so die Autoren um Lenton.

Von den verbliebenen 500 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die uns mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit noch von einer 1,5-Grad-Erwärmung trennen, bleibt nicht mehr viel übrig. "Zusammen mit den weltweiten CO2-Emissionen von immer noch mehr als 40 Milliarden Tonnen pro Jahr könnte das verbliebene Budget bereits ausradiert sein", heißt es im Nature-Kommentar.

"Globaler Kipppunkt" könnte Welt in Treibhaus verwandeln

Im schlimmsten Fall könnten sich die verschiedenen Kipppunkte gleich einer Kaskade gegenseitig verstärken und die Welt in ein Treibhaus verwandeln. Erste Anzeichen dafür seien bereits zu beobachten. So führe der Verlust des arktischen Meereises dazu, dass sich die Region weiter erwärmt und der Eisschild auf Grönland schneller abschmilzt. Dadurch fließt Süßwasser in den Nordatlantik, was bereits zu einer Abschwächung des Golfstroms beigetragen haben könnte.

Sollte sich das fortsetzen, könnte das den Monsun in Westafrika und Asien destabilisieren, Dürren in der Sahel-Zone auslösen und selbst das Amazonasbecken austrocknen. Auch eine Erwärmung des Südpolarmeers sei möglich, was den Eisschild der Antarktis schneller abschmelzen würde. Die Klimaforscher sprechen von einem globalen Kipppunkt, der durchaus im Bereich des Möglichen liege.

Trotz der düsteren Aussichten warnen sie davor, den Kopf in den Sand zu stecken. Denn wenn schon nicht verhindern, so lasse sich der extreme Klimawandel zumindest noch verzögern. Ein Beispiel dafür sei das Abschmelzen der Eisschilde Grönlands und der Antarktis.

"Wir könnten bereits dazu beigetragen haben, dass zukünftige Generationen mit einem Meeresspiegel-Anstieg von zehn Metern in den nächsten Jahrtausenden leben müssen", heißt es in dem Kommentar der Klimaforscher. Aber selbst wenn dieser Kipppunkt schon überschritten sein sollte, ließe sich zumindest noch beeinflussen, wie schnell es dazu kommt. Bei einer Erwärmung um 1,5 Grad wären es 10.000 Jahre, bei mehr als zwei Grad wohl weniger als 1.000 Jahre.

Noch gebe es, erhebliche Datenlücken und Schwächen in den Modellen, räumen die Forscher ein. Beispielsweise ist die Frage, welche Rolle Wolken im ganzen System spielen, noch nicht beantwortet. Das wollen die Klimaforscher aber nicht als Ausrede gelten lassen, weiter abzuwarten. Schließlich müsse ein ernsthaftes Risiko-Management vom schlimmsten Fall ausgehen. Darauf zu wetten, dass es schon nicht so schlimm komme, sei keine verantwortungsvolle Option.

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