Grüner S-Bahn-Zug im Ruhrgebiet, einige Leute steigen um die Mittagszeit an einem nicht überdachten Bahnsteig aus, das Wetter ist sommerlich.
Corona hat den ÖPNV anhaltend geschwächt – das Neun-Euro-Ticket ändert daran wenig. (Foto: Michael Gaida/​Pixabay)

Alle Welt spricht über das Neun-Euro-Ticket und die Folgen für den öffentlichen Personen­nahverkehr (ÖPNV). Überall werden überfüllte Nahverkehrszüge und volle Bahnhöfe gezeigt. Dabei sieht die Alltagswirklichkeit für Busse und Bahnen ganz anders aus.

Bis zum Beginn der Coronakrise wuchs der deutsche ÖPNV-Markt zwar langsam, aber doch stetig. Als im März 2020 die erste Coronawelle über das Land rollte, kam es durch die restriktiven Bewegungssperren zu erheblichen Rückgängen der Fahrgastzahlen.

Davon konnte sich der ÖPNV bis heute nicht erholen, wie Daten des Verkehrsmarktberichts "Mobilitätsmonitor" zeigen.

Natürlich spiegelt die Lage die besonderen Pandemiebedingungen wider: Viele Fahrgastgruppen waren weniger unterwegs, wie Pendler:innen, Studierende und Schüler:innen, oder sogar zeitweise kaum noch anzutreffen, wie etwa Dienstreisende und Tourist:innen.

Doch was passierte in den ersten beiden Krisenjahren genau und wie sah es nach der Aufhebung der Restriktionen aus? Fahrgastzahlen großer Nahverkehrsbetriebe zeigen das ganze Ausmaß.

2020/21: Wenige Fahrgäste in Bussen und Bahnen

Die erste Grafik zeigt die Nachfrage seit Anfang 2020 in Berlin, Hamburg, Stuttgart und München. Die Prozentanteile der Fahrgastfahrten einzelner Verkehrsbetriebe und -verbünde basieren zum einen auf den Vorjahresdaten und zum anderen auf Auskünften der Anbieter.

Kurvendiagramm: Die ÖPNV-Nutzung sank in der Pandemie in den großen Städten auf 70 Prozent, mit noch stärkeren Einbrüchen nach Pandemiebeginn und im ersten Pandemiewinter.
Fahrgastentwicklung im ÖPNV seit Anfang 2020 (=100 Prozent) in Berlin, Hamburg, Stuttgart und München (Linien) sowie nach VDV-Befragung (grauer Streifen) – Schätzungen anhand relativer Monatswerte, in Berlin absoluter Quartalswerte, in Berlin und München ohne S-Bahn. (Grafik: WZB/​M‑Five; Quellen: BVG, HVV, MVG, VDV, VVS)

Parallel dazu ist die Spannbreite einer Befragung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) unter seinen Mitgliedsorganisationen abgebildet. Die nummerierten, rosa markierten Zeiträume zeigen Maßnahmen der bundesdeutschen Coronapolitik.

Die Corona-Effekte auf die Fahrgastzahlen sind unübersehbar: Vor allem in den Lockdown-Phasen brach die Nachfrage ein – auf nur noch einen Bruchteil der gewöhnlichen Zahlen.

Selbst in Berlin und München, die über ein sehr gut ausgebautes Angebot verfügen, blieben bereits Ende März 2020 vier von zehn Fahrgästen dem ÖPNV fern. In den folgenden Monaten wanderten weitere ab.

Erst im Herbst 2020 meldeten die VDV-Unternehmen wieder Zahlen, die annähernd an das Vorkrisenniveau herankamen – doch die direkt befragten Großstädte nannten andere Werte. Die Zahlen stiegen nur leicht wieder an, weiterhin blieben große Teile der Kundschaft dem Nahverkehr fern.

Aber auch diese zarten Ansätze der Erholung wurden durch die nächste kräftige Coronawelle zur Jahreswende 2020/21 wieder zunichtegemacht. Der "Lockdown light" ließ die Fahrgastzahlen erneut einbrechen. Zwar lagen die Tiefpunkte nicht unter jenen Anfang des Jahres 2020, dafür blieben die Fahrgastzahlen diesmal deutlich länger hinter den ursprünglichen Werten zurück.

Bis weit in den Frühling 2021 hinein konnten die großen Verkehrsbetriebe keine Rückkehr zum Vorkrisenniveau verzeichnen. Teilweise kam es zu einer Halbierung der ursprünglichen Nutzungszahlen.

Wer die Wahl hat, hat sich häufig umorientiert

Bei den von den Fahrgästen genannten Gründen spielte natürlich die Angst vor Ansteckung oder auch die Beschwerlichkeit der Maske eine Rolle. Aber viel entscheidender war, dass die Menschen während des Lockdowns und auch danach ihr tägliches Verkehrsverhalten änderten: Jeder zweite Fahrgast blieb im Homeoffice oder nutzte andere Verkehrsmittel, und das über Monate – Zeiträume, in denen sich auch neue Routinen bildeten.

Natürlich ist es nicht ungewöhnlich, dass die ÖPNV-Nachfrage saisonal schwankt. Aber der prozentuale Vergleich zeigt, dass der Rückgang auch gegenüber dem entsprechenden Zeitraum des Vorjahres erfolgte und damit tatsächlich als ein Substanzverlust bezeichnet werden muss.

Porträtaufnahme von Christian Scherf.
Foto: M-Five

Christian Scherf

ist wissenschaftlicher Berater beim Mobilitäts-Thinktank M-Five in Karlsruhe. Der Technik­soziologe und Experte für integrierte Mobilitäts­dienst­leistungen war zuvor am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB) tätig.

Das Muster ist in allen untersuchten Städten zu erkennen: Nach starkem Einbruch der Fahrten im März und April 2020 folgte zwar eine Phase allmählicher Erholung im milden Corona-Sommer 2020. Selbst in dieser Zeit mit relativ geringen Infektionszahlen erreichte die Nachfrage in den betrachteten Großstädten aber nicht annähernd das Vorjahresniveau.

Erst ab April 2021, also mehr als ein Jahr nach Pandemiebeginn, trat trotz erneuter Einschränkungen des öffentlichen Lebens ("Bundesnotbremse") eine allmähliche Verbesserung ein. Doch auch im Sommer 2021 wurde in keiner der untersuchten Städte das Fahrgastaufkommen der Vorkrisenzeit erreicht.

Und noch immer ist keine Normalisierung in Sicht. Bis Ende Mai, also mehr als zwei Jahre nach Beginn der Krise, erreichten alle vier Städte erst 80 Prozent des Vor-Corona-Niveaus.

Die ausgewählten Betriebe und Verbünde liegen im Wesentlichen innerhalb des Korridors der VDV-Befragung, häufig jedoch im unteren Bereich und teilweise sogar darunter. Dies könnte darauf hindeuten, dass Verkehrsbetriebe mit einem hohen Fahrgastpotenzial stärker von den Fahrgastrückgängen betroffen sind als kleinere Betriebe in suburbanen und ländlichen Räumen.

Denn in Großstädten scheinen viele Kund:innen Alternativen zu haben, während die Stammkundschaft in kleineren Städten oft nicht ausweichen kann.

Neue Angebote bleiben aus: Beispiel Stadtbahnen

Ebenfalls im Kontext des Neun-Euro-Tickets wird vielfach die Frage diskutiert, wie sich der Ausbau der ÖPNV-Angebote weiter entwickeln soll. Die Länge des Streckennetzes ist dabei ein zentraler Aspekt – neben Faktoren wie Fahrzeuge, Taktung oder Erreichbarkeit.

Kurvendiagramm: Das ÖPNV-Netz pro Einwohner wurde seit 2004 in den großen Städten kürzer oder stagnierte, wobei die Bevölkerung teils stark zunahm.
Länge der schienengebundenen ÖPNV-Netze pro 1.000 Einwohner von 2004 bis 2020 sowie Bevölkerungsveränderung in Prozent. (Grafik: Robin Coenen/​Christian Scherf; Quellen: Destatis, VDV)

Die zweite Grafik zeigt die Entwicklung der Streckenlänge der Stadt- und Straßenbahnen (mit U- und S-Bahn) in sieben deutschen Großstädten von 2004 bis 2020, darunter auch drei der oben untersuchten Städte. Die Streckenlänge wurde jeweils auf die Bevölkerungszahlen der Städte umgelegt.

Die sich zeigende Entwicklung ist ernüchternd. Der leichte Anstieg der absoluten Streckenlänge wurde durch das Bevölkerungswachstum in den meisten Städten überkompensiert.

Daher konnten die Angebote pro 1.000 Einwohner:innen in keiner Stadt merklich zulegen. Durchschnittlich stiegen die Einwohnerzahlen in den 16 Jahren um elf Prozent. Dadurch sank die mittlere Netzlänge pro 1.000 Einwohner:innen im Schnitt von rund 157 Metern im Jahr 2004 auf 142 Meter 2020.

In Leipzig ist der Rückgang besonders ausgeprägt. Die Einwohnerzahl stieg hier seit 2004 um stattliche 20 Prozent, während die Netzlänge pro Einwohner sogar leicht sank – von 150 auf 143 Meter.

Für die nächsten Jahre sind in mehreren Städten Neubaustrecken (Berlin, Essen, München) oder Ausbauprojekte geplant (Leipzig, Köln, Stuttgart). Bei anhaltendem städtischen Bevölkerungswachstum ist jedoch zu befürchten, dass die Zuwächse auch weiterhin nicht mit den Einwohnerzahlen Schritt halten.

Das Neun-Euro-Ticket zeigt lediglich die Schwächen des ÖPNV 

Fazit: Der ÖPNV ist das mit Abstand am stärksten durch Corona geschwächte Verkehrsmittel. Er konnte und kann sich bis heute nicht von den negativen Effekten der Corona-Pandemie erholen.

Die Auswertung der ÖPNV-Nachfragezahlen zeigt, dass bis Ende Mai 2022 in keiner betrachteten Stadt das Vor-Corona-Niveau auch nur annähernd erreicht wurde. Das Beispiel der Stadt- und Straßenbahnen zeigt zudem, dass die geschwundene Nachfrage kurzfristig auch nicht durch Angebotsausbau zurückzugewinnen ist.

Porträtaufnahme von  Andreas Knie.
Foto: David Außerhofer

Andreas Knie

ist Verkehrsforscher am WZB, wo er die Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung leitet. Er ist Professor für Soziologie an der TU Berlin, außerdem gehört er dem Heraus­geber­rat von Klima­reporter° an.

Und jetzt kommt das Neun-Euro-Ticket! Eine Lehre aus den Entwicklungen der beiden letzten Jahre sollte sein: Platz für mehr Fahrgäste müsste eigentlich vorhanden sein. Sicherlich werden an Feiertagen und bei schönem Wetter die Bahnen besonders zu touristisch attraktiven Zielen überfüllt sein.

Es ist aber sehr fraglich, ob das Neun-Euro-Ticket die Kund:innen nachhaltig zurückbringt. Vielmehr ist mit einem Strohfeuer zu rechnen, das schnell verglühen wird, wenn die drei Monate vorbei sind.

Ohne eine strukturelle Reform wird sich der öffentliche Verkehr dauerhaft nicht erholen – und ist damit auch weit davon entfernt, das Rückgrat der Verkehrswende zu sein.

Ein Neustart für den ÖPNV könnte mit der Auflösung des tariflichen Flickenteppichs beginnen. Bereits jetzt fragen sich viele Neun-Euro-Käufer:innen, warum es nicht dauerhaft einen Preis für alle Leistungen überall geben kann. Mindestens die Angebote müssen den neuen Wünschen nach mehr Flexibilität und einfacherer digitaler Verfügbarkeit genügen.

 

Die Auswertung der bisherigen Daten lässt auch erkennen, dass der Nahverkehr lernen muss, seine Fahrgäste von Tür zu Tür zu bringen, und sich nicht länger auf die Bedienung zwischen Haltestellen konzentrieren darf.

Mittlerweile sind hier mit Rädern, Rollern, Scootern sowie On‑Demand-Shuttles Dienstleistungen in unterschiedlichen Formaten verfügbar. Allerdings bleiben sie bislang weitgehend Einzel- und Insellösungen, die nicht in einem einfachen digitalen Verbund angeboten werden.

Wenn das Neun-Euro-Ticket etwas bewirken kann, dann das Bewusstsein bei den Menschen, dass es auch einfacher gehen kann, aber auch, dass Neuerungen offenkundig nur von außen kommen können.

Weitere Angaben und Hintergründe in der aktuellen Ausgabe des Mobilitätsmonitors. Dieser Beitrag erscheint auch im WZB-Blog "Digitale Mobilität".

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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