In praktisch allen Bereichen des öffentlichen Lebens ist die Maskenpflicht aufgehoben, aber in öffentlichen Verkehrsmitteln bleibt sie vorerst bestehen.
Über die medizinische Sinnhaftigkeit einer solchen Insellösung kann man streiten. So sieht die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) keinen medizinischen Grund mehr dafür, die Maskenpflicht in Bussen und Bahnen aufrechtzuerhalten.
Der grüne Gesundheitsexperte Janosch Dahmen und auch SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach sehen hingegen in der Maskenpflicht weiterhin eine effektive Maßnahme.
Für medizinische Laien erscheint zumindest schwer nachvollziehbar, wie eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr wirken soll, wenn sie nirgendwo anders mehr gilt. Wenn also die Menschen auf der Arbeit, in der Schule, beim Shopping, im Sportverein und so weiter keine Masken mehr tragen.
Davor oder danach steigen diese Menschen dann in eine Tram oder einen Bus und tragen für vielleicht 15 Minuten eine Maske. Lassen sich dadurch massenhaft Infektionen verhindern? Dies ist eine medizinische Frage, die hier nicht beantwortet werden kann.
Was wollen die Fahrgäste?
Interessant ist aber, wie wenig die Fahrgäste des öffentlichen Verkehrs in der Diskussion selbst zu Wort kommen. Die Aufrechterhaltung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr wird von Politiker:innen und Expert:innen diskutiert. Auch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen äußerte sich und sprach sich für die Aufhebung der Maskenpflicht aus.
Hingegen wird in der Debatte nicht deutlich, was die Fahrgäste wollen. Hier kann man nur spekulieren: Mag sein, dass viele Fahrgäste eine Maskenpflicht unterstützen, weil sie sich so vor Ansteckung besser geschützt fühlen (allerdings eben nur in der kurzen Zeit, die sie in öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen).
Wohlgemerkt habe ich die vorher geltende flächendeckende Maskenpflicht in allen Bereichen ausdrücklich befürwortet. Mich überzeugte die Evidenz, dass mit einer allgemeinen Maskenpflicht die Infektionszahlen begrenzt werden können.
Angesichts der Lockerungen überall außer im öffentlichen Verkehr habe ich jetzt allerdings den Eindruck, dass ich aufgrund meiner Verkehrsmittelwahl unangemessen benachteiligt werde.
Lisa Ruhrort
forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen für einen Wandel des Verkehrssystems in Richtung Nachhaltigkeit. Sie leitet die Nachwuchsforschungsgruppe Move Me. Auf ihren täglichen Wegen durch Berlin findet sie in Rollern, Lastenrädern und Carsharing-Autos interessantes Anschauungsmaterial für eine veränderte Mobilitätskultur.
Dass die Nutzerinnen und Nutzer in der Debatte keine prominente Rolle spielen, ist jedenfalls kein Zufall, sondern Symptom eines strukturellen Problems. Die Nutzer:innen des öffentlichen Verkehrs haben bisher keine echte Lobby.
Hätte man eine ähnlich einseitige Regelung für Autofahrer:innen politisch durchsetzen wollen, hätte sich vermutlich schnell der ADAC zu Wort gemeldet – sei es pro oder kontra Maskenpflicht, je nach Meinung seiner Mitglieder. Doch eine solche starke Lobbyorganisation fehlt für den öffentlichen Verkehr.
Eine soziologische Begründung dafür lässt sich auf die Gesellschaftsanalysen von Andreas Reckwitz stützen: In der "Gesellschaft der Singularitäten" strebt besonders die "neue Mittelklasse" nach sozialer Distinktion, in dem sie das Unkonventionelle und "Besondere" in ihren Alltagspraktiken pflegt.
Prinzipiell eignen sich Verkehrsmittel gut dazu, diese Werte nach außen zu signalisieren: allen voran das Fahrrad, das das Auto in manchen sozialen Schichten als Stil-Ikone abgelöst hat.
Fehlende Identifizierung der Nutzer:innen mit öffentlichem Verkehr
Zwar gehört auch der öffentliche Verkehr für viele Menschen, gerade in den Ballungsräumen, zu ihrer gelebten Alltagspraxis – doch er eignet sich bisher weniger gut für die Zur-Schau-Stellung der eigenen unverwechselbaren Persönlichkeit.
Aus psychologischer Sicht lässt sich ergänzen, dass sich der öffentliche Verkehr weniger als Träger "sozialer Identitäten" eignet: Das Verkehrsangebot wird zwar genutzt, aber die meisten Nutzenden identifizieren sich nicht als "ÖV-Nutzer:innen".
Dies hat direkte Auswirkungen auf die – fehlende – politische Repräsentation dieser Gruppe. Und das ist wiederum ein gravierendes Problem für eine Verkehrswende, für die der öffentliche Verkehr eigentlich eine Schlüsselrolle spielen soll.
Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem
Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Die meisten Beiträge erscheinen zugleich im WZB-Blog der Forschungsgruppe Digitale Mobilität.
Diese kann er nur einnehmen, wenn die Nutzenden des öffentlichen Verkehrs sich besser organisieren, um ihre Interessen einzufordern – egal, ob für oder gegen eine Maskenpflicht, um beim Beispiel zu bleiben.
Auch gegenüber den Verkehrsunternehmen müssen die Kundeninteressen künftig besser durchgesetzt werden. Denn das Hauptaugenmerk der Betreiber liegt strukturell nicht unbedingt auf den Nutzer:innen, sondern auf ihren eigentlichen Kund:innen – den Städten, Gemeinden und Landkreisen, die den öffentlichen Verkehr bestellen und bezahlen.
Es besteht die Gefahr, dass zukünftig zwar mehr Geld für den öffentlichen Verkehr bereitgestellt wird, dieses aber nicht unbedingt zu einem kundenfreundlichen Angebot führt. Ein solches können letztlich nur die Nutzenden selbst politisch erkämpfen – Voraussetzung dafür ist eine starke und schlagkräftige Kund:innen-Organisation, eine Art ADAC für den öffentlichen Verkehr.