Mehrere Straßenbahnen stehen an einem Sommertag in einem Bogen hintereinander am Berliner Alexanderplatz, ein Mann mit rotem Rollkoffer will offenbar einsteigen.
ÖPNV-Stau am Berliner Bahnhof Alexanderplatz – während auf dem Land oft kaum noch ein Bus fährt. (Foto: Sascha Kohlmann/Flickr)

Selbst Verkehrswissenschaftler, nennen wir sie der Einfachheit halber "Experte A" und "Experte B", streiten heutzutage mitunter erbittert um die Frage, ob der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in der Zukunft noch viel Sinn hat.

A: "Der ÖPNV muss ausgebaut werden, er ist die einzige Alternative zur Dominanz des privaten Automobils!"

B: "Der ÖPNV war mal eine gute Idee – vor hundert Jahren. Seine Grundprinzipien – Linien, Fahrpläne, Bereitstellung – sind aber nicht mehr zeitgemäß!"

A: "Aber es gibt doch auch gut funktionierenden Kollektivtransport, vor allem in Städten und Ballungsräumen. Da hat doch individueller On-demand-Verkehr, also Verkehr auf Abruf, gar keinen Sinn!"

B: "Punktuell mag das stimmen – der ÖPNV hat aber ein systemisches Problem. Kleinstaaterei, Bürokratie, schlechter Service – das ist alles nicht reformierbar!"

Und so könnte der Disput ewig weitergehen.

Was, wenn doch beide recht haben, allerdings in dem Sinne, dass die eine Position nur ein Grenzfall der anderen ist?

Eine Antwort findet sich möglicherweise in der Geschichte wissenschaftlicher Revolutionen, wie sie unter anderem Thomas S. Kuhn so großartig beschrieben hat.

So schien zu Anfang des letzten Jahrhunderts die klassische Physik fast fertig zu sein mit der Erklärung der Welt. Nur drei Probleme waren noch zu lösen – und dann hätten die Physikerinnen und Physiker nach Hause gehen können, dachte man.

Da kam aber Max Planck mit einer kühnen These, die er selbst zeitlebens nur mit Widerwillen sich zu eigen machte, der Quantenhypothese. Der Rest ist Geschichte: Das neue Paradigma konnte die offenen Probleme präzise erklären und trat in der Folgezeit einen beispiellosen Siegeszug an.

Die neue Theorie muss die alte als Grenzfall enthalten

Was aber geschah mit der klassischen Physik? Wurde sie für falsch erklärt und als veraltet zu den Akten gelegt? Das passierte nicht.

Porträtaufnahme von Timo Daum.
Foto: Fabian Grimm

Timo Daum

ist Physiker, Hochschul­lehrer und Sach­buch­autor. Sein Buch "Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie" erhielt 2018 den Preis "Das politische Buch" der Friedrich-Ebert-Stiftung. Daum ist Gast der Forschungs­gruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschafts­zentrum Berlin (WZB). Sein Beitrag erschien ebenfalls im WZB-Blog der Forschungsgruppe Digitale Mobilität.

Denn die Quantenmechanik hatte noch eine zusätzliche Anforderung zu erfüllen. Um anerkannt zu werden, musste sie nicht nur schlüssig, widerspruchsfrei und erfolgreicher als die alte Theorie sein. Die neue Theorie musste darüber hinaus erklären, warum die alte in bestimmten Anwendungsbereichen richtige Voraussagen lieferte – bei der klassischen Physik betrifft das makroskopische Vorgänge bei niedrigen Geschwindigkeiten.

Anders ausgedrückt: Eine neue Theorie muss die alte als Grenzfall enthalten.

Das alte Paradigma des ÖPNV ist offensichtlich immer weniger in der Lage, die Mobilitätsbedürfnisse unserer Tage zu erfüllen. Das dysfunktional gewordene alte Paradigma wird – auch wenn die Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckt – zusehends abgelöst von einem neuen: datengetriebene, individuelle und auch die letzte Meile abdeckende Verkehrslösungen – sozusagen die quantenmechanische Revolution im öffentlichen Verkehr.

Und doch muss dieses neue Konzept das alte als Grenzfall enthalten. Denn für die urbanen Zentren hat der bisherige ÖPNV – auch wenn hier vieles zu verbessern ist – durchaus seine Berechtigung. Im Lichte der quantenmechanischen Revolution erscheint so der "alte" ÖPNV als Grenzfall eines viel umfassenderen Verkehrs-Paradigmas.

Eines, das die Vorteile des ÖPNV mit den Vorteilen des Pkw verbindet und das wir mit Anne Hidalgo den "öffentlichen Dienst geteilter Mobilität" (service public des mobilités partagées) nennen können.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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