Berliner Straße mit temporärer Busspur, die zu jeder Zeit auch von Radfahrenden zu benutzen ist.
Auch die neue StVO soll für die "Leichtigkeit des Verkehrs" sorgen. In der Praxis wird darunter der Autoverkehr verstanden, nicht der umweltfreundliche Verkehr. (Bild: Wolfram Däumel, CC BY‑SA 3.0 DE)

In Berlin-Mitte ist jahrelang versucht worden, die dortige Invalidenstraße auf Tempo 30 herunterzuregulieren. Der öffentliche Raum ist sehr knapp, viele sind mit dem Fahrrad unterwegs, dazu kommt eine unübersichtliche Tramhaltestelle – und sehr viel Autoverkehr.

Doch die für Tempo 30 eingeholten Rechtsgutachten sprachen alle eine eindeutige Sprache: Es fehlte an einer ausreichenden Menge von Unfällen, die einen solchen Eingriff in das Straßenverkehrsrecht rechtssicher erlauben würde.

Dann änderte sich die Situation. Im September 2019 verlor ein SUV-Fahrer aufgrund eines epileptischen Anfalls die Kontrolle über sein Fahrzeug, raste in eine Fußgängergruppe und tötete vier Menschen. Wenige Wochen später wurde genau für diesen Straßenabschnitt die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Tempo 30 reduziert.

Das Beispiel zeigt: Erst müssen Menschen sterben, dann kann reagiert werden. Kommunale Verkehrspolitik funktioniert nur mit einem Blutzoll!

Eine prospektive, vorausschauende und vorsorgende Verkehrspolitik, die Gefahren frühzeitig erkennt und eben dann schon einschreitet, bevor Menschen zu Schaden kommen, ist auf Basis der bisher bestehenden Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht möglich.

Ungestörter Autoverkehr

Als der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg begann, seine weltberühmten Pop‑up-Radwege einzuführen, klagte die AfD erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht. Der entsprechende Umbau des Kottbusser Dammes musste erstmal gestoppt werden.

Der Stadtbezirk hatte es verabsäumt, die bereits eingetretenen Unfälle mit Fahrradfahrenden minutiös zu dokumentieren. Erst als diese Liste des Grauens beigebracht wurde, konnte beim Oberverwaltungsgericht der Umbau durchgesetzt werden.

Dass dies kein haltbarer Zustand ist, dass wissen alle. Die Städteinitiative "Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten" kämpft seit Jahren für die Einführung von Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in städtischen Quartieren. Fast 1.000 Kommunen haben sich diesem Aufruf schon angeschlossen.

Solange die jetzige Verkehrsordnung gilt, folgt sie aber einem einzigen Prinzip: der Herstellung der Flüssigkeit und "Leichtigkeit des Verkehrs", wie es in der Verordnung so schön heißt. In der Sprache der Richter bedeutet dies: Der Auto-Verkehr darf nicht unzumutbar gestört werden. Dies ist nur möglich, wenn es zu Unfällen gekommen ist. Keine Unfälle – keine Einschränkungen.

Das führte in der Vergangenheit vor allem dazu, dass die Schere bereits im Kopf der Planerinnen und Planer ansetzte. Im Bewusstsein, dass man am Ende doch wieder vor Gericht endet, fängt man erst gar nicht an, über eine Änderung des fließenden und ruhenden Autoverkehrs nachzudenken.

Gesetz der Straße

Woher kommt diese Regelung eigentlich, warum wird das alles so rigide durchgesetzt? Viele, die Auto fahren, kennen die StVO aus eigenem Erleben, weil sie falsch geparkt haben oder zu schnell gefahren sind und die Bußen immer mit Verweisen auf die geltenden StVO-Paragrafen ausgesprochen werden.

Foto: David Außerhofer

Andreas Knie

Der Sozial­wissen­schaftler mit den Schwer­punkten Wissen­schafts­forschung, Technik­forschung und Mobilitäts­forschung lehrt an der TU Berlin und leitet die Forschungs­gruppe Digitale Mobilität am Wissen­schafts­zentrum Berlin. Andreas Knie ist Mitglied im Herausgeberrat von Klimareporter°.

Aber erst langsam kommt in den Fokus der Aufmerksamkeit: Die StVO ist das Grundgesetz der Straße und regelt den Verkehr nach einem alles bestimmenden Kernelement: Der fließende und ruhende Autoverkehr darf nicht gestört werden. Das hat als oberstes Prinzip der Verkehrspolitik zu gelten.

Damit sind aber auch allen anderen Maßnahmen – etwa mehr und breitere Fahrradwege oder auch eine Vorrangschaltung für Busse und Bahnen – sehr enge Grenzen gesetzt. Die Gründe dafür liegen wie bei so vielen verkehrspolitischen Regeln weit zurück in der Vergangenheit.

Die Nationalsozialisten hatten das Auto in den Mittelpunkt ihrer Sozialpolitik gestellt. Wenige Wochen nach Machtantritt verkündete Adolf Hitler auf der Automobilausstellung 1933, dass in Deutschland jede Familie ein Auto haben sollte. Damals war das in Deutschland unvorstellbar, kostete doch schon ein kleines Fahrzeug das 30-Fache eines Arbeiterjahreslohnes.

Verordnung von 1934

Die Nazis machten mit ihrer Autopolitik allerdings Ernst und führten nicht nur die Reichsgaragenordnung ein, initiierten das Volkswagenprojekt und organisierten den Bau von fast 4.000 Kilometern Reichsautobahnen, sie regelten auch den Verkehr auf allen Straßen in der oben beschriebenen Weise neu.

Noch zu Zeiten der Weimarer Republik hatte eine unübersichtliche Rechtslage geherrscht, die Regeln waren von Land zu Land unterschiedlich. Mal durfte rechts gefahren werden, mal links, mal gab es Geschwindigkeitsbegrenzungen, mal wieder nicht.

Die Nazis machten damit Schluss und verabschiedeten in mehreren Schritten ein reichseinheitliches Regelwerk, das allein dem Auto die Vorfahrt garantierte. Denn das Auto galt damals als Ikone der Moderne. Es kam aber gegenüber Fuhrwerken, Radfahrenden und öffentlichen Verkehrsmitteln im öffentlichen Straßenraum nicht richtig in Gang.

Mit der im Mai 1934 verabschiedeten Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung wurde die Vorfahrt des Autos erstmals einheitlich für das gesamte Reich geregelt. Auch die sonst üblichen Geschwindigkeitsgrenzen wurden aufgehoben. Es gab also freie Fahrt fürs Auto!

Die StVO wurde dann im Lauf der Jahre noch mehrmals novelliert, aber das Kernanliegen blieb bis heute gleich: die Förderung des Automobilverkehrs.

Neue StVO lässt Kommunen Wege offen

Daran ändert auch die jetzt von der Ampel-Koalition beschlossene StVO-Novelle erstmal nichts. Dem Kerngedanken des ungestörten Verkehrsflusses wurden zwar Aspekte der Stadtgestaltung und des Umweltschutzes hinzugefügt.

Eingriffe in den Verkehrsfluss können jetzt sehr viel breiter und möglicherweise auch einfacher vorgenommen und vor allen Dingen zeitgemäßer begründet werden – mit Hinweisen auf den Klimaschutz und die Belange anderer Verkehrsmittel.

Aber das Kardinalproblem bleibt immer noch zu lösen: Wenn es mehr Fahrradstreifen und mehr Platz für Fußverkehr geben soll, wenn Parkplätze abgeschafft und entsiegelt werden sollen – dann wird der Platz für den fließenden und ruhenden Verkehr mit Autos schlicht und einfach kleiner.

Diese Maßnahmen lässt der neue Verordnungstext zwar nun zu, aber mit der Einschränkung "sofern die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigt sind".

 

Die Novelle ist ohne Zweifel ein erster Schritt in Richtung einer modernen Verkehrspolitik. Mehr Vorankommen wäre im herrschenden politischen Alltag ohnehin nicht drin gewesen.

Die Kommunen haben aber durchaus Möglichkeiten für eine aktive Verkehrsgestaltung. Wo ein Wille ist, finden sich auch Wege.

Mit Rückgriff auf das Baugesetzbuch können auf Grundlage der Landesstraßengesetze ganze Straßen teilentwidmet und neu "bespielt" werden. Eine Verkehrspolitik, die Rücksicht auf alle nimmt und dabei auch die Aufenthaltsqualität erhöht, ist durchaus möglich.

Tacheles!

In unserer Kolumne "Tacheles!" kommentieren Mitglieder unseres Herausgeberrats in loser Folge aktuelle politische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen.

Voraussetzung ist ein kommunaler Plan, der demokratisch legitimiert ist und der einzelne Viertel nicht gegeneinander ausspielt – der sozusagen für alle Beteiligten lebbar ist.

Die Straßenverkehrsordnung gilt dann zwar immer noch. Aber sie ist dann unter ein kommunales Dach gestellt, sie ist sozusagen domestiziert.