Hinter einer Wiese stehen Windräder, am Himmel sind dunkle Wolken zu sehen, die Szenerie ist in bräunliches Gelb getaucht.
Die Temperaturen in Europa steigen. Für die Erzeugung von Ökostrom ist das nicht nur negativ. (Bild: Bohbeh/​Shutterstock)

Klimareporter°: Herr Schmitt, erneuerbarer Strom, besonders der aus Windkraft und Photovoltaik, wird von notorischen Kritikern gern als "Zufalls"-Strom abgewertet. Diese müssten aber nur den Wetterbericht lesen, um im Voraus zu wissen, wie viel Strom Wind und Sonne liefern können. Wie genau sind hier eigentlich die Vorhersagen inzwischen?

Alex Schmitt: Gar nicht mal so schlecht. Ich bin zwar weder Meteorologe noch Stromhändler und kann insofern die Güte der Wettervoraussagen kommerzieller Anbieter nicht ausreichend bewerten – aber ich kann die Daten der Übertragungsnetzbetreiber heranziehen.

Diese stellen täglich auf der Entso‑E-Transparency-Plattform viertelstundenscharfe Day-Ahead- sowie Intraday-Prognosen für die deutschlandweite Erzeugung der Erneuerbaren zur Verfügung, also Vorhersagen für den folgenden und für denselben Tag.

Anhand dieser Daten komme ich zum Beispiel bei Windkraft an Land auf eine durchschnittliche Abweichung der Prognosen gegenüber der tatsächlichen Erzeugung von 13 Prozent bei den Day-Ahead-Daten sowie von acht Prozent bei Intraday.

Beim Wetter ist ein gewisser Grad an Zufall immer dabei. Der Strommarkt ist aber auch so organisiert, dass auf unvorhergesehenes Wetter noch sehr kurzfristig im Intraday-Handel reagiert werden kann.

In Zukunft werden außerdem immer mehr Batteriespeicher eingesetzt. Damit wird sich die Abhängigkeit der erneuerbaren Erzeugung von kurzfristigen Wetterschwankungen weiter vermindern.

Ökostrombranche und Energieberatungs-Institute verwenden bisher das Wetterjahr 2009 als sogenanntes Standardjahr, um auch längerfristige Prognosen über die erneuerbare Erzeugung zu treffen. Sie kritisieren diese Wahl des Jahres 2009 als nicht mehr zeitgemäß. Warum?

Ein historisches Wetterjahr im Rahmen eines Strompreisszenarios oder einer Strompreisprognose in die Zukunft fortzuschreiben, ist immer mit Ungenauigkeiten verbunden.

Selbst wenn das historische Wetterjahr beispielsweise dieselbe Durchschnittstemperatur aufweist wie ein aktuelles Jahr oder eins in der Zukunft, dann können sich diese Jahre in anderen relevanten Größen wie der Verteilung der Sonneneinstrahlung im Jahresverlauf oder der Windgeschwindigkeit stark unterscheiden. Der Klimawandel verschärft diese Problematik noch einmal.

Das Wetterjahr 2009 hatten wir gewählt, weil es in einem Vergleich verschiedener historischer Wetterjahre die mittleren Ergebnisse lieferte, wie sich der Strompreis in Deutschland entwickelt hat. "Mittlere" bedeutet: Wenn die Strompreiskurven, die aus dem Modell mit einem jeweils anderen Wetterjahr kommen, nebeneinandergelegt wurden, dann war die 2009er Kurve "in der Mitte".

In diesem Sinne können die Verhältnisse von 2009 als eine Art Erwartungswert für ein zukünftiges Wetterjahr interpretiert werden. Das gilt aber nur, wenn sich die Wetterjahre in der Stichprobe einigermaßen gleich verteilen.

Davon ist aber aufgrund des Klimawandels eher nicht auszugehen. So sehen wir gerade in den letzten zehn Jahren ab 2014 einen Trend zu wärmeren Durchschnittstemperaturen in Europa.

Ein Indiz dafür ist ja auch: 2009 lag die globale Erwärmung bei 0,8 Grad, für 2024 wird schon mit mehr als 1,4 Grad gerechnet. Zudem verstärken sich die Folgen des Klimawandels und beeinflussen mit mehr und mehr Wetterextremen auch die erneuerbare Erzeugung. Sie schlagen deswegen vor, statt mit einem festen Wetterjahr künftig mit einem "Wetterschwarm" zu rechnen. Wie soll man sich das vorstellen?

Bei einem "Wetterschwarm" wird ein gegebenes Strompreisszenario nicht nur einmal gerechnet. Stattdessen wird eine Vielzahl von Szenarioläufen betrachtet. Unsere "Schwärme" bestehen in der Regel aus eintausend Läufen.

Porträtaufnahme von Alex Schmitt.
Bild: Energy Brainpool

Alex Schmitt

ist Analyst für fundamentale Strom­markt­modellierung beim Beratungs­institut Energy Brainpool in Berlin. Zuvor war er als wissen­schaft­licher Mit­arbeiter am Ifo-Institut und als Lehr­beauftragter an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig. Er hat Volks­wirtschafts­lehre studiert und an der Universität Stockholm zur Ökonomie des Klima­wandels geforscht und promoviert.

Dabei variieren wir von Lauf zu Lauf die zugrunde liegenden Wetterjahre. Konkret heißt das: Für jeden Lauf wird eine neue Sequenz historischer Wetterjahre zufällig gezogen. Alle anderen Modellparameter wie die Stromnachfrage oder die Rohstoffpreise ändern sich zwischen den Läufen nicht.

Entscheidend für die Aussagekraft dieses Ansatzes ist, dass die Wetterjahre zufällig gewählt werden. Um künftige Klimaveränderungen und ihre Auswirkungen auf die Strompreisszenarien zu berücksichtigen, werden dabei Eintrittswahrscheinlichkeiten für die einzelnen Wetterjahre angenommen, die abhängig vom jeweiligen Modelljahr sind.

Und je weiter das Modelljahr in der Zukunft liegt, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein "warmes" Wetterjahr gezogen wird. Das betrifft insbesondere die Jahre seit 2014.

Wir haben dabei, vereinfacht gesagt, die Werte für die Eintrittswahrscheinlichkeiten so gewählt, dass der daraus resultierende erwartete Temperaturanstieg für ein gegebenes Wetterjahr den Simulationsergebnissen aus aktuellen Studien zur Klimamodellierung entspricht.

Und was bringt die klimamodellierte Prognose nun?

Aus den Ergebnissen der individuellen Läufe lässt sich zunächst für jedes Modelljahr eine näherungsweise Wahrscheinlichkeitsverteilung für den Strompreis oder für andere Werte ermitteln.

Daraus lassen sich dann ein Mittelwert oder – je nach Interesse – auch andere Werte aus der Verteilung ableiten. Diese Ergebnisse beruhen dann nicht nur auf einem einzelnen Wetterjahr, sondern die Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, sind besser berücksichtigt.

Verändern sich durch eine Prognose mithilfe des "Wetterschwarms" die Voraussagen für die Stromerzeugung aus Wind und Sonne spürbar?

Interessant sind bei den Erneuerbaren zwei Aspekte. Erstens die jährlich erzeugte Energiemenge. Hier sind für Solarenergie die Unterschiede zwischen dem Standardszenario mit Wetterjahr 2009 und dem Mittelwert aus dem Wetterschwarm für Solarenergie vernachlässigbar. Bei der Windkraft liegen die Abweichungen im einstelligen Prozentbereich.

Stärker beeinflusst die Prognose mithilfe des Wetterschwarms aber zweitens die sogenannten Capture-Preise, besonders für Solarstrom.

Der Capture-Preis ist der durchschnittliche Erlös pro Megawattstunde, den eine frei finanzierte Erneuerbaren-Anlage im Jahr erzielen kann, auf Basis der potenziellen Erzeugung. Die Höhe dieses Preises ist für Investoren und Betreiber besonders relevant.

Beeinflusst wird der Capture-Preis aber nicht nur durch die Gesamterzeugung, sondern gerade auch dadurch, wie sich die erneuerbare Einspeisung im Jahresverlauf gestaltet.

Das Standard-Wetterjahr 2009 weist dabei eine relativ starke "Gleichzeitigkeit" der Wind- und Solarerzeugung auf. Im Sommer, wenn die Solareinspeisung am höchsten ist, wird in dem Jahr auch mehr Strom aus Windturbinen erzeugt als in anderen Jahren.

Dieses hohe Angebot sowohl durch Sonne als auch durch Wind drückt die Preise und damit den Erlös von Solaranlagen. Der Grad der sogenannten Kannibalisierung bei den Erneuerbaren ist 2009 höher.

Diese Gleichzeitigkeit ist in den Warmwetterjahren seit 2014 weniger stark ausgeprägt. Da wird in den Wintermonaten vergleichsweise mehr Windstrom erzeugt.

Das wird dann in einem klimasensitiven Wetterschwarm stärker gewichtet. Entsprechend liegt der mittlere Capture-Preis je nach Modelljahr um bis zu 30 Prozent höher als im Standardszenario von 2009.

Auf die Frage, wie zuverlässig und gesichert erneuerbare Erzeugung ist, weist die Branche darauf hin, dass 100 Prozent Erneuerbare am Ende nur in einem europaweiten System denkbar sind. Irgendwo weht immer Wind und durch den Tageslauf der Sonne gibt es kontinentweit auch viel mehr Stunden mit voller solarer Leistung als in einem Land allein. Was sagt Ihre "Wetterschwarm"-Prognose dazu?

Ich würde es allgemeiner formulieren: Letztlich geht es darum, in einem Stromsystem mit 100 Prozent Erneuerbaren und einem hohen Anteil von nicht steuerbaren Anlagen sicherzustellen, dass sich Stromangebot und -verbrauch zu jedem Zeitpunkt decken.

Dafür müssen sowohl die Erzeugungs- als auch die Nachfrageseite so flexibel wie möglich aufgestellt sein.

Eine wichtige Option ist dabei der europaweite Stromhandel, aber nicht die einzige, weil ihm vor allem auch physische Grenzen in Form von Übertragungskapazitäten gesetzt sind.

Als weitere Optionen werden flexible Nachfrager wie E‑Fahrzeuge oder Wärmepumpen, Batteriespeicher oder Power-to-Gas ebenfalls beitragen müssen.

 

Die Erzeugung von Ökostrom wird nicht nur von den Klima- und Wetterverhältnissen bestimmt, sondern auch davon, wie viel Wind- und Solarstrom wegen Netzengpässen abgeregelt wird. Wodurch geht eigentlich mehr erneuerbare Erzeugung verloren – durch schlechtes Wetter oder durch ein schlechtes Netz?

Das ist nicht so einfach zu beantworten. Es kommt darauf an, wie man diese Größen quantifiziert und welche Technologie man betrachtet.

Für den Einfluss des Wetters kann man sich die potenzielle Erzeugung der vergangenen Wetterjahre anschauen. Vergleicht man da beispielsweise für Windkraft den Schnitt der letzten 20 Jahre mit dem niedrigsten Jahreswert – das war 2010 mit der geringsten Erzeugung bezogen auf die installierte Kapazität – ergäbe das einen wetterbedingten "Verlust" von elf Prozent für Wind an Land und auf See zusammengenommen.

Anders gesagt: Im windschwachen Jahr 2010 wurden nur 89 Prozent der durchschnittlichen Windkrafterzeugung erreicht.

Zum Vergleich: Für 2022 gibt die Bundesnetzagentur den aufgrund von Netzengpassmanagement verlorenen Anteil an der Stromerzeugung mit etwa drei Prozent für Wind an Land und 14 Prozent für Offshore-Windkraft an.

So gesehen können ungünstiges Wetter und schlechtes Netz also zu Verlusten bei der Stromerzeugung in vergleichbarer Größenordnung führen.