In der Slowakei ging nach 36 Jahren Bauzeit das AKW Mochovce 3 in Betrieb. (Bild: Dean Calma/​IAEA/​Flickr)

Steht die Atomkraft in Europa vor einer Renaissance? Eine wachsende Zahl von Ländern auf dem Kontinent plant den Neubau von Reaktoren und führt dafür Klima- und Energiesicherheits-Gründe an. Einige, die bisher darauf verzichtet haben, denken sogar an den erstmaligen Einstieg in diese Technologie.

In der Realität lässt sich jedoch der gegenläufige Trend feststellen. In den vergangenen fünf Jahren sind in Europa 18 AKW endgültig abgeschaltet und stillgelegt worden, zuletzt vor wenigen Wochen nach 50 Jahren Betriebszeit der belgische Reaktor Doel 1 am Antwerpener Hafen.

Gleichzeitig treffen die Neubau-Pläne auf Schwierigkeiten. Vor allem sind das die hohen Kosten, wie das Beispiel Niederlande zeigt.

Derzeit betreiben 13 der 27 EU-Staaten Atomkraftwerke, zusammen mit Großbritannien und der Schweiz sind es rund 100 Reaktoren, mehr als die Hälfte davon in Frankreich. Von den 18 Stilllegungen seit 2020 entfallen sechs auf Deutschland, weitere sechs auf Großbritannien, zwei auf Frankreich, drei auf Belgien und eine auf Schweden, so eine Bilanz des Internationalen Wirtschaftsforums Regenerative Energien (IWR) in Münster.

Dem stehen drei Neuzugänge in Frankreich (Flamanville 3), Finnland (Olkiluoto 3) und der Slowakei (Mochovce 3) gegenüber. Da in diesem Jahr zwei weitere belgische Reaktoren (Doel 2 und Tihange 1) abgeschaltet werden, steigt die Gesamtzahl der Stilllegungen in Europa in der Fünf-Jahres-Periode auf 20.

Laufzeitverlängerungen und Ausbauprogramme

Die Gründe für die Abschaltungen waren einerseits Atom-Ausstiegsbeschlüsse, die, wie in Deutschland, von den Parlamenten nach dem Fukushima-Supergau aus Sicherheitsgründen gefasst wurden. Hinzu kommt die technische Überalterung von Reaktoren aus den ersten AKW-Generationen, die 40 Jahre und länger am Netz waren, wie in Großbritannien.

Aber das politische Klima in Europa in Bezug auf die Atomkraft hat sich gedreht, besonders seit Beginn des Ukraine-Krieges. Länder wie Belgien, die Niederlande und Schweden revidierten ihren Ausstiegskurs, beschlossen Laufzeitverlängerungen für die älteren Meiler und planen teilweise große Ausbauprogramme.

Das AKW Doel 4 in Antwerpen, in dem es 2014 einen Sabotageakt gegeben haben soll, erhielt eine Laufzeit-Verlängerung auf 50 Jahre. (Bild: Parttimephotographer/​Wikimedia Commons)

Frankreich als Land mit dem höchsten Kernkraft-Anteil im Stromnetz will bis zu 14 neue Großreaktoren sowie möglicherweise noch zu entwickelnde Mini-AKW bauen. Auch Tschechien, das derzeit sechs Reaktoren betreibt, plant den Neubau von vier Blöcken.

Polen, bisher atomstromfrei, will einen Block, und zwar an der Ostsee. Italien, das seine AKW nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 stilllegte, plant den Neueinstieg, sogar mit eigener Reaktorproduktion. Spanien indes, wo derzeit sieben AKW am Netz sind, hält am Ausstieg fest.

In Deutschland, wo die letzten AKW 2023 abgeschaltet wurden, läuft eine Debatte über die Reaktivierung von Reaktoren und einen möglichen Neueinstieg, vorangetrieben vor allem von Union, FDP und AfD.

Aber auch Wirtschaftsverbände machen europaweit Druck für eine Atom-Renaissance. So gründeten Organisationen aus 19 Ländern unlängst in Paris eine gemeinsame Initiative zur Stärkung der Atomenergie, unter anderem aus Großbritannien, Italien, Polen, Schweden und Tschechien, Deutschland war hier allerdings nicht vertreten.

Eingeladen hatte der größte französische Arbeitgeberverband Medef. Das dort vorgetragene Argument: Die Atomkraft könne, wenn entsprechend gefördert, eine wichtige Rolle für die Dekarbonisierung und die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit spielen.

Belgien: Stromkonzern blockt Atom-Ambitionen ab

Der aktuelle Fall von Belgien ist hier interessant, weil sich darin die Probleme einer Kehrtwende in der Atompolitik zeigen. Im Fukushima-Jahr 2011 fiel der Beschluss, die sieben AKW des Landes bis 2025 abzuschalten.

Nach Putins Angriff auf die Ukraine gab es 2023 eine Korrektur insofern, als für zwei der Reaktoren, Doel 4 und Tihange 3, eine Laufzeitverlängerung um zehn auf 50 Jahre Betriebszeit, also bis 2035, beschlossen wurde.

Für die übrigen fünf blieb es beim Abschaltplan. Zuerst traf es 2022 respektive 2023 die wegen Sicherheitsfragen umstrittenen "Riss-Meiler" Tihange 2 und Doel 3, in diesem Jahr sind nun drei weitere Blöcke dran.

Teure Kernenergie

Der globale Zuwachs von Atomkraft-Leistung war 2024 wie in den Jahren zuvor relativ gering. Sechs AKW gingen laut der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA neu ans Netz, vier wurden stillgelegt. 

Die neuen Reaktoren stehen in China (zwei Anlagen), Frankreich, Indien, den USA und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Stillgelegt wurden zwei Blöcke in Kanada und je einer in Russland und Taiwan.

Die Gesamtleistung aller Atomkraftwerke weltweit stieg dadurch unter dem Strich um knapp 4.000 Megawatt. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum hat allein China 277.000 Megawatt an neue Solaranlagen installiert. Fazit: Hohe Baukosten und lange Bauzeiten hemmen weiterhin die AKW-Marktentwicklung.

Der Betreiber der belgischen AKW, der französische Konzern Engie, sah die Laufzeitverlängerung der zwei AKW bis 2035 wegen Nachrüstkosten von geschätzt zwei Milliarden Euro und technischer Hürden lange kritisch. Er stimmte ihr dann doch zu, zumal es für den Weiterbetrieb staatliche Subventionen gibt.

Forderungen der jüngst angetretenen Regierung unter dem flämischen Regionalisten Bart De Wever nach einer Verlängerung über 2035 hinaus und einer Prüfung, ob man die stillgelegten AKW wieder in Betrieb nehmen könne, weist das Unternehmen allerdings zurück.

Eine Laufzeit über 2035 hinaus sei "undenkbar", sagte Engie-Belgien-Chef Vincent Verbeke. Wenn der Staat so etwas wolle, müsse er die Meiler selbst betreiben.

Engie Belgien, früher Electrabel, setzt stark auf den Ausbau erneuerbarer Energien, vor allem von Solar- und Windkraft, mit Batterieparks und Gaskraftwerken zur Netzstabilisierung. Verbeke sagte jüngst auf einer Pressekonferenz, die Atomkraft gehöre "nicht mehr zu den strategischen Prioritäten" seines Unternehmens.

"Denjenigen, die glauben, Atomkraft sei billig, sage ich, dass das falsch ist", betonte der Konzernchef. Die Atomkraft sei eine sehr teure Technologie, und es komme günstiger, den Einsatz der erneuerbaren Energien voranzutreiben.

Niederlande: Regierung findet keine Investoren

Auch die Niederlande, wo es bisher ein AKW gibt, haben große Schwierigkeiten mit ihren Atomausbau-Plänen. Die dortige Regierungskoalition, der auch die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders angehört, zielte wie bereits die Vorgängerregierung von Mark Rutte auf den Neubau von vier Reaktoren.

Allerdings meldeten sich keine Investoren, die das Projekt umsetzen wollen. Klimaministerin Sophie Hermans teilte jetzt dem Parlament mit, es sei unrealistisch, dass bis 2035 auch nur eine neue Anlage entstehe. Dieser von der Politik vorgegebene Zeitrahmen sei zu ehrgeizig.

Die Regierung hatte vorgesehen, Investoren mit Subventionen und Garantien anzulocken, gab das inzwischen jedoch auf. Das Verhältnis von Ertrag und Risiko für den Staat habe nicht mehr gestimmt, erläuterte Hermanns.

Die Regierung setzt nun auf eine Laufzeitverlängerung für das vorhandene AKW, das in dem Nordsee-Ort Borssele steht. Ob das technisch und finanziell sinnvoll ist, klären Fachleute derzeit ab.

Wie realistisch unter solchen Vorzeichen die hochfliegenden Nuklearpläne der europäischen Regierungen sind, die einen Neubau von mehreren Dutzend Groß-AKW bedeuten würden, ist fraglich. Der zuletzt im Dezember 2024 in Frankreich ans Netz genommene Reaktor vom Typ EPR kostete inklusive Finanzierungskosten rund 20 Milliarden Euro und hatte eine Bauzeit von 17 Jahren.

Beim seit 2023 am Netz befindlichen EPR-Reaktor in Finnland traten ebenfalls drastische Überschreitungen von Kosten und Bauzeit auf, beim noch nicht fertiggestellten britischen AKW Hinkley Point C droht Ähnliches.

 

Kritische Fachleute verweisen darauf, dass neue AKW unter diesen Bedingungen praktisch nur von Staatsunternehmen wie in Frankreich oder mit sehr hohen Subventionen wie in Großbritannien gebaut werden können.

"Atomkraftwerke sind wettbewerblich keine Alternative zu erneuerbaren Energien", sagt dazu der IWR-Chef Norbert Allnoch. "Ein AKW-Neubau dauert schlicht zu lange, ist extrem teuer und die Finanzierung bleibt riskant."

Zudem sei der Markt für Atomkraftwerke auf eine sehr geringe Zahl von Unternehmen – meist Staatsunternehmen – angewiesen, die überhaupt in der Lage sind, solche Anlagen zu bauen und zu exportieren.