Logo des Betreibers EDF am Eingang des Atomkraftwerks Nogent-sur-Seine, im Hintergrund die beiden Kühltürme.
Der Staat rettet die Électricité de France vor der Pleite – mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger und ohne einen Plan B. (Bild: Olrat Bry/​Shutterstock)

Frankreich hat die Voraussetzungen geschaffen, um die Renaissance der Atomkraft zu starten – zumindest theoretisch. Der Energiekonzern Électricité de France (EDF) ist seit voriger Woche wieder komplett in Staatsbesitz übergegangen.

Die Regierung in Paris kann nach der Verstaatlichung, die sie knapp zehn Milliarden Euro gekostet hat, die Strategie des größten europäischen Stromkonzerns wieder komplett allein bestimmen. Das hoch verschuldete Staatsunternehmen steht trotzdem vor großen Herausforderungen. Ob der von Präsident Emmanuel Macron forcierte Nuklearkurs aufgeht, ist offen.

EDF soll die Ziele umsetzen, die die Macron-Regierung ausgegeben hat: Sicherheit der Stromversorgung, Investitionen in neue AKW, Ausbau der erneuerbaren Energien sowie bezahlbare Strompreise.

Der Staat hatte den Konzern vor 18 Jahren teilprivatisiert, um dessen Kapital aufzustocken. Jetzt wurde die Privatisierung zurückgedreht.

Wirtschaftsminister Bruno Le Maire sprach von einer "exzellenten Nachricht für die Französinnen und Franzosen". Die Rückgewinnung der kompletten Kontrolle über das Unternehmen sei nötig gewesen, um die Stromproduktion künftig schneller hochzutreiben und das Programm zum Bau von vorerst zumindest sechs neuen Reaktoren zu beschleunigen.

Millionen Kleinaktionäre haben bei dem Privatisierungsexperiment freilich viel Geld verloren.

Störanfällig und häufig nicht am Netz

Die Stromproduktion in Frankreich, die im Schnitt zu rund zwei Dritteln von Atomkraftwerken geleistet wird, war 2022 auf 279 Milliarden Kilowattstunden und damit den niedrigsten Wert seit 30 Jahren gesunken. Die alternde, von EDF betriebene AKW-Flotte ist zunehmend störanfällig. Im vorigen Jahr musste zeitweise fast die Hälfe der landesweit 56 Reaktoren abgeschaltet werden, wegen Revisionen, Reparaturen von Korrosionsrissen oder Kühlwasser-Problemen.

 

Erstmals seit 1980 importierte Frankreich netto Elektrizität, nicht unerhebliche Mengen auch aus Deutschland. Der Strommangel trieb die Preise in Frankreich, aber auch in den umliegenden Ländern stark nach oben.

Auch in diesem Jahr exportierte Deutschland im ersten Quartal weiterhin netto Strom nach Frankreich. Seit Mai ist es umgekehrt, wie Daten der Bundesnetzagentur zeigen.

Paris hält eine Stromproduktion von 350 Milliarden Kilowattstunden für notwendig, um Frankreichs "Energieautonomie" zu stärken. Wie schnell das klappt, ist unklar.

Erst in diesem Frühjahr waren neue Korrosionsrisse an Reaktoren entdeckt worden. Die Kontrollarbeiten an den AKW, die Stillstände mit sich bringen, sollen noch bis ins Jahr 2025 andauern. Versorgungsprobleme könnte es nach Meinung von Fachleuten daher auch im nächsten Winter wieder geben.

Aktuell ist die Lage auf dem französischen Elektrizitätsmarkt wegen des jahreszeitbedingt relativ geringen Stromverbrauchs entspannt. Die AKW arbeiten allerdings auch jetzt teils nur auf niedrigem Niveau. Seit Anfang Mai schwankt der Anteil der Atomkraft in Betrieb zwischen 37 und 60 Prozent der installierten nuklearen Kapazität.

Das dürfte an den Wartungsarbeiten liegen, aber auch daran, dass sich der Atomstrom bei ebenso im Ausland geringem Bedarf, niedrigen Preisen am Strommarkt und wegen hoher Einspeisung von Solar- und Windkraft nur begrenzt exportieren lässt.

64,5 Milliarden Euro Schulden

Die AKW-Stillstände und andere Probleme haben die EDF finanziell in extreme Schieflage gebracht. Der Konzern ist inzwischen mit über 64,5 Milliarden Euro verschuldet, und ohne die Wiederverstaatlichung wäre er wahrscheinlich bankrott gegangen.

Die Tageszeitung Le Monde titelte denn auch: "Staat übernimmt 100 Prozent von EDF, aber Herausforderungen bleiben". Der Analyst Nicolas Goldberg von Colombus Consulting in Paris befand: "Die Verschuldung von EDF ist wie eine Fußfessel."

Und der unabhängige Energieexperte Mycle Schneider sagte gegenüber Klimareporter°: "Die Wiederverstaatlichung löst die Probleme des Konzerns nicht, sie verdeckt sie nur. Die AKW-Flotte wird dadurch nicht jünger, Inspektionszeiten werden nicht kürzer, Korrosion wird nicht gestoppt und der Reparaturbedarf nicht verringert."

Hinzu kommt: Der Konzern ist von Macron aufgefordert worden, den Bau von mindestens sechs und bis zu 14 neuen Reaktoren zu planen. Die Herausforderung für EDF könnte größer nicht sein. Reaktoren in Serie hat Frankreich erfolgreich zuletzt in den 1980er Jahren gebaut, die aktuellen Bauprojekte hingegen leiden unter Kosten- und Bauzeit-Explosionen.

Der neue Großreaktor vom Typ EPR in Flamanville in der Normandie soll 2024 ans Netz gehen, mit zwölf Jahren Verspätung und vervierfachten Baukosten – 13,2 Milliarden Euro. Ähnlich war es beim Schwesterprojekt Olkiluoto in Finnland.

"Atomingenieure kann man nicht 3D-drucken"

Die Kosten für die sechs neuen geplanten EPR-Reaktoren hat die Regierung Macron auf 52 Milliarden Euro geschätzt, was eher knapp kalkuliert sein dürfte. EDF selbst sprach von "Investitionen in extremer Höhe".

Rechnet man die Ausgaben für die Verlängerung der Lebensdauer der bestehenden Reaktoren, den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie den der Stromnetze hinzu, so muss EDF künftig jedes Jahr die gewaltige Summe von mehr als 16 Milliarden Euro investieren.

Da die Finanzierung durch Privatinvestoren schwierig werden dürfte, plant die Regierung, Geld von dem beim Volk populären staatlichen Sparbuch "Livret A" in die AKW-Projekte zu leiten. Bisher dient das "Livret A" vor allem dazu, Sozialwohnungen zu bauen.

Schneider sieht als Hauptproblem die Frage der industriellen Machbarkeit von Macrons Atomprogramm. "Seit 16 Jahren versucht die französische Nuklearindustrie vergeblich, einen einzigen neuen Reaktor, den EPR in Flamanville, ans Netz zu bringen. Die Industrie bleibt jeden Hinweis darauf schuldig, wie sie gedenkt, Macrons Wünsche zu erfüllen."

Alle von der Regierung in Paris initiierten Maßnahmen wie etwa das "Atombeschleunigungsgesetz" seien administrativer Natur oder politischer Strategie zuzuordnen, so der Experte. "Doch weder Politiker noch Bürokraten bauen AKW, und Atomingenieure kann man nicht 3D-drucken."

Das zeigt: Die EDF-Verstaatlichung hat die Probleme von Macrons Atomkurs nicht wirklich gelöst. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte der – damals im Volk noch beliebte – Präsident mit einer Energiewende nach deutschem Muster geliebäugelt. Er schwenkte dann aber zurück auf die traditionelle Linie der französischen Energiepolitik. Ob die durchzuhalten ist, steht auf einem anderen Blatt.

Anzeige