Zwei Männer in Kapuzenjacken mit Schild
Aus Fridays for Future ist so etwas wie Everyone for Future geworden, meint Tadzio Müller (rechts). Hier demonstriert er zusammen mit seinem Mann Frank Schumacher. (Foto: Peter Kagerer)

Klimareporter°: Herr Müller, der Kohleausstieg ist beschlossen, aber erst für 2038. Eine ziemliche Niederlage für die Klimabewegung, oder?

Tadzio Müller: Ja. Ein Kohleausstieg im Jahr 2038 wäre vielleicht vor zehn Jahren ein milder Erfolg gewesen, denn damals war der Diskurs noch ganz woanders. Jetzt ist das eine Bestandsgarantie für die Kohle.

Marktprognosen zufolge wird die Kohle früher aus dem Markt gedrängt, was die gesetzliche Regelung wirkungslos machen würde.

Eben. Wer jetzt sagt, dieses Gesetz sei ein Einstieg in den Ausstieg, redet sich das schön. Das deutsche politische System sitzt im Grunde genommen einem fundamentalen falschen Verständnis von Klimapolitik auf. Das hat man schon bei der Kohlekommission gesehen, die das Kohleausstiegsgesetz vorbereitet hat.

Ein klassischer Interessenausgleich – ich geb dir mehr Lohn, du gibst mir mehr Klimaschutz – funktioniert einfach nicht. Beim Klima gibt es harte Ziele. Als Messlatte für so ein hartes Ziel kann man zum Beispiel das Pariser Klimaabkommen nehmen, als kleinsten gemeinsamen Nenner.

Also das Ziel, die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad gegenüber vorindustriellem Niveau zu begrenzen. Um auf diesen Pfad zu kommen, muss die Welt ihre CO2-Emissionen laut UN-Umweltprogramm ab jetzt jährlich um mindestens 7,6 Prozent senken.

Das sind die Erfolgsmaßstäbe, die wir anlegen müssen. Nicht: Gibt es ein Kohleausstiegsgesetz? Sondern: Gibt es Klimaschutz? Und den haben wir nicht.

Wir haben auch kein Bekenntnis zu globaler Gerechtigkeit. Oder eine Zusage an die junge Generation: Wir nehmen eure politischen Prioritäten ernst und verwursten die nicht mit objektiv weniger wichtigen Sachen.

Also sorry, aber ein stabiles Weltklima kann nicht nur einfach ein weiteres Thema sein wie die wirtschaftliche Stabilität in der Lausitz oder im Rheinland. Das ist doch ein myopischer, nationalistischer Wahnsinn!

Umfragen zeigen, dass viele Menschen einem schnellen Kohleausstieg zugestimmt hätten.

Für die meisten Menschen in Deutschland ist Klimaschutz ein Top-Thema. Das ist natürlich etwas, was unsere Bewegung erreicht hat. Es ist nur so, dass das ganz offenbar nicht zu einer veränderten Politik führt. Und das zeigt ein massives Scheitern unserer Bewegungsstrategie.

Was meinen Sie damit?

Wir haben unsere Strategie damals, so ab 2008, mehr oder weniger von der Anti-Atom-Bewegung entlehnt. Die Grundidee war, dass es einen Pfad gibt von einer veränderten Mehrheitsmeinung zu einer veränderten Politik. Dann hat der gemäßigtere Teil der Bewegung große Demos gemacht, der radikalere Teil Besetzungen von Kohle-Infrastruktur. Beides hatte das Ziel, die öffentliche Meinung zu bewegen.

Beim Atomausstieg gab es aber auch einen kritischen Wendepunkt von außen: das Atomunglück in Fukushima.

Porträtaufnahme von Tadzio Müller.
Foto: RLS

Tadzio Müller

ist Politologe und arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin als Referent für Klima­gerechtigkeit und internationale Politik. In den vergangenen Jahren war in verschiedenen Gruppen der Klima­gerechtigkeits­bewegung aktiv. 

Aber auch die Landtagswahl in Baden-Württemberg hat reingespielt. Ich glaube nicht, dass es den Atomausstieg 2011 gegeben hätte, wenn Merkel nicht die frühere CDU-Hochburg Baden-Württemberg hätte verteidigen wollen. Da war also die öffentliche Meinung entscheidend.

Was schließen Sie daraus?

Wir müssen uns fragen, was denn zurzeit unsere größte Ressource ist. Und das ist der – im besten Sinne – absurd große gesellschaftliche Rückhalt für Fridays for Future. Mittlerweile gibt es ja sozusagen Everyone for Future. Die haben letztes Jahr 1,4 Millionen Menschen für Klimaschutz auf die Straßen gebracht. Ich finde, diesen ganzen Leuten muss man ein Angebot machen, jetzt selbst für Klimaschutz zu sorgen.

Fridays for Future soll zu massenhaftem zivilen Ungehorsam aufrufen?

Ja. Aber anders, als wir das bisher gemacht haben. Wir müssen die größten Stärken der verschiedenen Bewegungen vereinen.

Ende Gelände zum Beispiel ist ja eine Kampagne, die aus der linksradikalen Szene kommt und im besten Fall vielleicht 10.000 Menschen mobilisieren kann. Die sind aber taktisch sehr erfahren. Sie wissen, wie man erfolgreiche Blockaden organisiert und gleichzeitig für die Sicherheit, das Wohlbefinden und den Spaß bei den Aktivist:innen sorgt.

Vor vier Jahren bei der großen Aktion in der Lausitz kam nachts plötzlich ein Dixi-Klo und dann noch Suppe für alle – hinter der Polizeilinie, mitten in der Grube! Da dachte ich: Wow, wir haben geile taktische Fähigkeiten. So haben wir spektakuläre Ende-Gelände-Aktionen hinbekommen – aber die waren eben symbolisch.

Und jetzt?

Extinction Rebellion liegt mit einer Grundidee richtig: Wenn Regierungen keinen Klimaschutz betreiben, muss man das gesellschaftliche Leben lahmlegen. Und das geht eben nicht im Tagebau, der für viele sehr weit weg ist, sondern zum Beispiel auf den Straßen und Kreuzungen der Innenstädte.

Das sind ja auch Orte, an denen die Klimakrise verursacht wird.

Aber das muss gar nicht im Vordergrund stehen. Die Piqueteros in Argentinien haben zum Beispiel ab Mitte der Neunzigerjahre die wenigen Straßen besetzt, auf denen multinationale Konzerne ihre Produkte in ländliche Regionen karren. Damit wollten sie auf soziale Ungerechtigkeit aufmerksam machen.

Mit dem Protestinhalt hatten die Straßen nichts zu tun. Es ging darum, den Alltag aufzubrechen, Druck auf die Gegenseite auszuüben, die Kosten des Ignorierens hochzutreiben. Das brauchen wir jetzt auch. Dafür reicht die vergleichsweise kleine linke Szene aber nicht aus.

Sprich: Die Strategie von Extinction Rebellion, die taktische Erfahrung von Ende Gelände – soziale Legitimität und Menschenmassen von Fridays for Future.

Genau. Das wäre das passende Signal um zu zeigen: So einen Tritt ins Gesicht, wie ihn das Kohleausstiegsgesetz darstellt, nehmen wir nicht hin.

Der große Zuspruch für Fridays for Future hängt aber sicher auch mit der eher unpolitischen Herangehensweise und den niedrigschwelligen Aktionsformen zusammen. Wenn die Bewegung an diesen Schrauben dreht, dürfte viel Unterstützung wegbrechen, oder?

Deshalb will der zentristische Flügel bei den Fridays gern weitermachen wie bisher. Aber man kann doch nicht vernünftigerweise erwarten, dass das plötzlich andere Effekte hat.

Die Fridays haben unglaublich Beeindruckendes geleistet. Das ist der erste Akteur seit langem, bei dem ich das Gefühl habe: Ja, ihr könnt vielleicht die Welt retten.

Was ich vorschlage, würde die Basis wahrscheinlich verkleinern, das stimmt. Aber die Basis zu vergrößern, einfach nur, um die Basis zu vergrößern – was bringt das, wenn man nichts verändert?

Anzeige