Durch dicht stehende Kaffeesträucher kämpft sich Diego López den steilen Hang seiner Finca hinab. Schwüle, dicke Tropenluft steht zwischen den Pflanzen. Mit schnellen Bewegungen pflückt der 44-Jährige die roten Kaffeebeeren und wirft sie in einen Plastikkübel, den er sich vor den Bauch gebunden hat. Vom Gürtel baumelt dem Kaffeebauern eine Machete. Die ist für den Fall, dass ihm die dunkelgrünen Sträucher – alle drei bis vier Meter hoch – gar kein Durchkommen erlauben.
Zusammen mit Frau und Sohn, der gerade noch im Grundschulalter ist, wohnt López in einem kleinen Haus ohne fließend Wasser oberhalb seines Kaffeefeldes. Auf einem einzelnen Hektar baut er hier in Cauca, einem Departamento im Südwesten Kolumbiens, Arabica-Kaffee an.
Die anspruchsvolle Pflanze mag es warm, aber nicht heiß, nicht unter 18 und nicht über 22 Grad im Jahresdurchschnitt. Sie braucht einen tiefen und lockeren Boden, und weniger als 1.500 Millimeter Niederschlag im Jahr dürfen auch nicht fallen.
López' Finca inmitten der Anden, auf 1.600 Metern, bietet die idealen Standortbedingungen. Noch, möchte man sagen. Denn der Klimawandel setzt der Pflanze zu. Es wird wärmer und der Regen fällt unregelmäßiger. Laut einer Analyse des Stockholm Environment Institute könnte sich bis Mitte des Jahrhunderts die weltweite Arabica-Produktion halbieren.
Bisher sei auf seiner Finca ein größerer Ernteverlust ausgeblieben, sagt López, der unter seinem kurzen schwarzen Bürstenhaarschnitt mit ernstem Blick die Kaffeeernte mustert. Er bete zu Gott, dass das so bleibe. "Natürlich wünsche ich mir, dass meine Kinder und danach meine Enkelkinder das Land irgendwann übernehmen."
In Kolumbien sind über 600.000 Familien vom Kaffeeanbau abhängig. Ihr Durchschnittseinkommen liegt mit rund 1.000 Euro pro Haushalt und Jahr schon heute deutlich unterhalb der Armutsgrenze. Neben der ungleichen Landverteilung in Kolumbien – über 80 Prozent der Bäuer:innen müssen wie López mit weniger als zwei Hektar über die Runden kommen – haben die instabilen Weltmarktpreise für Rohkaffee und die gestiegenen Produktionskosten etwa von Dünger die Situation von Kleinbäuer:innen verschärft.
Schattenbäume gegen den Klimawandel
Wenige Kilometer Luftlinie entfernt liegt die Finca von Olga Lucia. Genau wie López lebt auch sie vom Kaffeeanbau. Sie gehört den Yanacona an, einer von vielen indigenen Ethnien in Kolumbien.
Im ganzen Land machen Indigene nur noch drei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. In Cauca, einer der ärmsten Regionen Kolumbiens, sind es über 20 Prozent. Olga Lucia hat lange, schwarze Haare und trägt die für die Yanacona typischen bunten Farben.
Die kleine 43-jährige Frau hat noch etwas mit López gemeinsam. Seit einigen Monaten sind beide Teil des Projekts "Kaffeebauern werden zu Klimahelden", einer Initiative der internationalen Hilfsorganisation Solidaridad. Rund 10.000 Kaffeebäuer:innen wollen durch das Pflanzen von Schattenbäumen ihren Anbau widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel machen. Agroforstwirtschaft nennt sich der Ansatz.
"Die Agroforstwirtschaft ist wie eine natürliche Ernteversicherung", erklärt Joel Brounen, Geschäftsführer von Solidaridad Kolumbien. "Die Bäume stabilisieren mit ihren Wurzeln den Boden und führen ihm Nährstoffe zu. Über ihren Schatten beeinflussen sie das Mikroklima und tragen mit ihren Früchten zur Ernährungssicherheit der Bauern bei."
Kühlend wirken die Bäume nicht nur durch ihren Schatten, sondern auch mit ihrem Blätterdach, über das sie Wasser an die Atmosphäre abgeben. Bei der Verdunstung wird der Umgebung Energie in Form von Wärme entzogen. Bekannt ist dieser kühlende Effekt als Verdunstungskälte.
Über López' Kaffeepflanzen rascheln die Blätter einiger großer Bäume im Wind. Alles einheimische Baumarten, wie er betont: Maniok, Avocado, Platane und auch einige, für die es keine deutsche Übersetzung gibt, wie der Tambor frijolito.
Dieser Baum mit schmalem Stamm und gefiederten Blättern trägt zwar keine essbaren Früchte, bindet aber Stickstoff aus der Atmosphäre. Das düngt den Boden und führt dazu, dass die Bäuer:innen weniger künstlichen Dünger einsetzen müssen. Damit sparen sie Geld und senken ihre Treibhausgasemissionen.
Gewalt ist nicht immer sichtbar, aber allgegenwärtig
Für Diego López und Olga Lucia ist der Agroforstansatz nicht neu, auch wenn sie ihn zuvor vielleicht nicht unter diesem Namen kannten. Nutzpflanzen und Bäume zu mischen, sei bei den Yanacona Tradition, erklärt Lucia. "Das machen wir schon seit vielen Generationen so." Auch die großen Bäume auf López' Finca sind wesentlich älter als das Projekt, das erst vor einem Jahr ins Leben gerufen wurde.
Dennoch helfe ihr das Projekt durch Fortbildungsangebote dabei, den eigenen Anbau weiter zu verbessern, stellt Lucia klar. Außerdem stellt Solidaridad finanzielle Mittel zur Verfügung, um weitere Schattenbäume zu kaufen, und schafft einen Anreiz, bestehende Bäume nicht für Feuerholz zu fällen.
Einige der Bäuer:innen hätten tatsächlich erst durch das Projekt angefangen, Bäume zu pflanzen, versichert Brounen von Solidaridad. Der Kaffeeanbau in Kolumbien sei auch heute noch weitestgehend von Monokulturen geprägt.
Auf López' Finca ist es Mittag geworden. Obwohl der Oktober den Beginn der Regenzeit einläutet, ist keine Wolke am Himmel zu sehen und die Sonne knallt auf das Feld. Der camouflagefarbene Tropenhut, den sich López als Sonnenschutz tief in die Stirn gezogen hat, und seine straffe, aufrechte Körperhaltung erinnern an ein Leben vor dem Kaffeeanbau.
Elf Jahre lang war er beim Militär. Bei einer Spezialeinheit, mit dem Auftrag, Gebiete von den Guerillas zurückzuerobern. Keine freiwillige Entscheidung, wie er betont. Als junger Mann habe man sich entscheiden müssen: Guerilla, Paramilitär, Drogenkartell oder eben Militär.
Der bewaffnete Konflikt, der in dem Land seit über 50 Jahren herrscht, ist nicht immer sichtbar und doch allgegenwärtig. Alle Kolumbianer:innen haben ihre eigenen Geschichten und ihren eigenen Bezug zur Gewalt. Das Friedensabkommen von 2016 zwischen der kolumbianischen Regierung und der größten Guerilla, der Farc, hat zwar vielerorts zu Entspannung geführt, aber vorbei ist der Konflikt noch lange nicht.
Indigene sind häufig Opfer von Gewalt
In Cauca sei die Sicherheitslage nach wie vor "kompliziert", erklärt Lucia. "Drei illegal bewaffnete Gruppen – die Guerillas Farc und ELN und eine rechte Paramilitärgruppe – sind in der Region aktiv."
Zwischen den Kaffeesträuchern von López' Finca ist es still und friedlich. Der Duft von frischem Grün hängt in der Luft. Nichts erzählt von der Gewalt und den bewaffneten Gruppen und auch López spricht nicht gern über seine Vergangenheit.
Das Militär hat durch die enge Zusammenarbeit mit rechten Paramilitärs nicht den besten Ruf. Die Vereinten Nationen machten 2008 Paramilitärs für 80 Prozent der Toten verantwortlich – überwiegend Zivilist:innen.
Olga Lucia hat ihren eigenen, ganz anderen Bezug zu der Gewalt in Kolumbien. Indigene gehören zu den Bevölkerungsgruppen, die am häufigsten Opfer von Gewalt werden. Auch weil Drogenkartelle, Guerillas oder rechte Paramilitärs die Gebiete indigener Gruppen oft zum Anbau und Transport von Koka benutzen.
Immer wieder wurde sie Zeugin von Sprengstoffanschlägen und Schutzgelderpressungen. Als Kind musste ihre Familie für einige Zeit in eine der größeren Städte in der Umgebung flüchten. Ihr Vater hatte sich geweigert, einer der paramilitärischen Gruppen beim Drogentransport zu helfen.
Ob das Projekt auch mehr Sicherheit für die Bäuer:innen bringt, kann niemand wirklich sagen. Lucia hat daran ihre Zweifel.
CO2-Zertifikate als neue Einkommensquelle der Bäuer:innen
Dennoch: Das Projekt hat fraglos viele positive Effekte für die Bäuer:innen. All das macht sie aber noch nicht zu Klimahelden, wie es der Projektname verspricht. Denn ein entscheidender Aspekt fehlt noch. Die Bäume sollen CO2 binden.
Wie viel Kohlenstoff die Bäume aufnehmen, kann über Satellitenbilder mit hoher Genauigkeit berechnet werden. Ein Algorithmus wertet Fernerkundungsdaten von den Fincas aus und berechnet den jährlichen Biomassezuwachs der Schattenbäume.
Das innovative Modell ist aus der Zusammenarbeit dreier Partner entstanden. Acorn (Agroforestry Carbon Removal Units for the Organic Restoration of Nature), eine Plattform der niederländischen Genossenschaftsbank Rabobank, hat gemeinsam mit dem Tech-Giganten Microsoft die dahinter liegende Technologie entwickelt. Solidaridad kümmert sich um den Aufbau und die Betreuung des Projekts vor Ort.
Über Acorn erhalten die Bäuer:innen Zugang zum Kompensationsmarkt. Für einen Mindestpreis von 20 Euro pro Tonne CO2 werden die Zertifikate auf der Plattform an Unternehmen verkauft. Allerdings nicht an jedes x-beliebige Unternehmen.
"Um ein Zertifikat kaufen zu können, muss das Unternehmen gewisse Kriterien erfüllen", erklärt Paola López, Finanzexpertin von Acorn. Das Unternehmen müsse eine Nachhaltigkeitsstrategie vorlegen können und nachweisen, dass es bereits Emissionen reduziert hat.
Von den 20 Euro je verkauftem Zertifikat gehen 16 Euro an die Bäuer:innen, also 80 Prozent. Die übrigen 20 Prozent teilen sich Solidaridad und Acorn. Microsoft hingegen ist selbst Kunde und kompensiert eigene Emissionen über einen Teil der Zertifikate.
Microsoft kennt die Kritik am Kompensationsmarkt
Popayán, die Hauptstadt von Cauca, liegt etwa eineinhalb Autofahrtstunden von Diego López' Finca entfernt. Im Veranstaltungsraum eines gehobenen Hotels nahe dem Zentrum applaudieren die Zuschauer:innen, als López, Lucia und weitere Bäuer:innen einen übergroßen Scheck erhalten.
Es ist das erste Mal, dass den Bäuer:innen eine CO2-Prämie ausgezahlt wird. Lucia erhält 100 Euro, López 540 Euro. Vertreter:innen von Solidaridad, der Rabobank, Microsoft und auch der Presse sitzen auf den Publikumsplätzen. Fast ein bisschen überfordert wirkt Lucia, als sie mit dem Scheck in der Hand auf dem Podium steht und fotografiert wird.
Germán Castro, ein gut gekleideter Mann mit adretter Frisur, ist für Microsoft vor Ort. Als "Connectivity Director" für Südamerika betreue er viele Projekte, aber auf dieses sei er besonders stolz, erklärt er.
Nach der Verleihung stellt sich Castro den Fragen der Journalist:innen. Ihm sei die Kritik, die in den letzten Wochen und Monaten auf den Kompensationsmarkt eingeprasselt ist, natürlich bekannt. Es seien aber Projekte wie dieses, die Unternehmen vor Greenwashing-Vorwürfen schützen könnten, versichert der Microsoft-Vertreter.
Und tatsächlich treffen viele der laut gewordenen Kritikpunkte nicht auf das Projekt zu. Anders als bei den vielfach kritisierten Waldschutzprojekten wird der Atmosphäre tatsächlich CO2 entzogen, statt – anhand oft fragwürdiger Schätzungen – nur vermiedene Emissionen zu errechnen. Und wie viel CO2 gespeichert wird, kann durch die Satellitendaten sehr genau bestimmt werden.
Ein Mindestpreis von 20 Euro pro Zertifikat liegt zudem weit über dem Durchschnittspreis auf dem freiwilligen CO2-Markt, der gerade irgendwo zwischen zwei und fünf Euro herumdümpelt. Und auch die 80 Prozent, die bei den Bäuer:innen ankommen, sind keine Selbstverständlichkeit. Nicht selten bleibt der Großteil des Geldes bei Beratungsfirmen und Zwischenhändler:innen hängen.
20 Euro sind zu wenig
Doch es gibt auch grundsätzliche Kritik an der Logik der Kompensation und dem freiwilligen Markt. Was passiert etwa, wenn die Schattenbäume in 20 Jahren gerodet werden, verbrennen oder einem Schädling zum Opfer fallen? Denn nur so lange läuft das Projekt von Solidaridad.
Für dieses Problem habe der freiwillige Kompensationsmarkt bisher keine Lösung, kritisiert Carsten Warnecke, Experte für CO2-Märkte beim New Climate Institute in Köln. "Und trotzdem werden Produkte schon jahrelang als klimaneutral verkauft."
Auch Germán Castro reagiert mit Zurückhaltung auf die Frage, was Microsoft in so einem Fall machen würde. Nach längerer Pause sagt er: "Das hat ein Unternehmen nicht in der Hand". Die eigene Klimabilanz, gibt er zu, würde Microsoft nicht nachwirkend korrigieren.
Und da hört die Kritik nicht auf. Es gibt bisher keinen funktionierenden Mechanismus, um Doppelzählungen zu verhindern. Sowohl das Unternehmen, das die Zertifikate kauft, als auch das Projektland, in diesem Fall Kolumbien, senken damit auf dem Papier den eigenen CO2-Fußabdruck.
Warnecke: "Bisher werden im Grunde die Zertifikate aller Klimaschutzprojekte auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt doppelt gezählt." Und solange das Kompensieren wesentlich billiger für ein Unternehmen ist als selbst CO2 einzusparen, wirke der Kompensationsmarkt als Bremse statt als Beschleuniger einer klimagerechten Transformation.
Auch die überdurchschnittlichen 20 Euro sind noch weit von den Kosten entfernt, die eine Tonne ausgestoßenes CO2 wirklich verursacht. Das Umweltbundesamt schätzt diese Kosten auf 200 Euro, andere Studien sogar auf mehrere tausend Euro.
Sind Lucia und López Klimahelden?
Trotz all dieser Kritikpunkte, betont Klimaexperte Carsten Warnecke, sei es natürlich zu begrüßen, wenn Unternehmen Klimaprojekte unterstützen. "Ohne Frage gibt es sinnvolle Klimaschutzprojekte mit großartigen Effekten für die Gemeinschaften vor Ort. Es dürfen nur keine CO2-Emissionen über sie kompensiert werden. Das schadet dem Klimaschutz."
Unter dem Namen Contribution Claim existiert bereits ein Alternativ-Ansatz zur CO2-Kompensation. Dabei bepreisen Unternehmen ihre Restemissionen mit einem internen CO2-Preis und fördern mit diesem Geld Klimaschutzprojekte.
Der Hauptunterschied ist, dass nicht die eigene Klimabilanz damit schöngerechnet wird. Unternehmen können stattdessen damit werben, dass sie konkret zum Klimaschutz beitragen.
Hält das Projekt also dem Versprechen seines Titels stand? Ist López ein Klimaheld? Ist Lucia eine Klimaheldin? Vielleicht nicht. Aber das müssen sie auch nicht sein. Unternehmen müssen selbst die Verantwortung für ihre Emissionen übernehmen, und zwar indem sie sie reduzieren.
Am Tag nach der Scheckübergabe besuchen noch einige Journalist:innen Diego López auf seiner Finca. Was er mit dem Geld machen wolle, fragt ihn einer. Einen Teil wolle er in seine Finca investieren, antwortet der Kaffeebauer. In die Maschinen oder in eine eigene Baumschule.
Kurz blickt er zu Boden und überlegt: "Vielleicht können wir uns auch den einen oder anderen Wunsch erfüllen. Ein paar neue Kleider oder vielleicht eine Reise."