So wichtig Klimaschutzprojekte sind, so schädlich können sie sein, wenn damit CO2-Emissionen kompensiert werden, sagt Carsten Warnecke. (Bild: Denis A. C. Conrado/​Wikimedia Commons)

Klimareporter°: Herr Warnecke, in einem Zeit-Artikel werden Sie mit den Worten zitiert: "Die Idee der CO2-Kompensation ist tot". Was meinen Sie damit?

Carsten Warnecke: Das ist natürlich ein bisschen provokant und eine Wunschvorstellung. Im freiwilligen Kompensationsmarkt gibt es viele Skandale, die man ans Licht ziehen könnte.

Die Wochenzeitung Die Zeit hat es zusammen mit der britischen Tageszeitung The Guardian ganz gut hingekriegt, die Probleme der Waldschutzprojekte darzustellen. Aber da schlummert noch viel mehr.

Trotzdem: Diese Recherche und auch weitere Enthüllungen haben den Markt auf jeden Fall verändert.

Woran erkennen Sie das?

Der freiwillige Kompensationsmarkt ist extrem fragwürdig, und das ist in den Köpfen vieler Leute endlich angekommen. Viele Konsumenten glauben den Klimaneutralität-Claims von Unternehmen nicht mehr.

Dazu kommen Gerichtsurteile über Klimaneutralität in Werbeversprechen. Die Drogeriekette DM hat vor wenigen Wochen ebenso verloren wie andere vor ihr. Auch den Versuch, Produkte als "umweltneutral" statt "klimaneutral" zu bewerben, hat der Richter aus denselben Gründen – nicht nachweisbar – nicht zugelassen.

Gleichzeitig plant die EU gerade ein Anti-Greenwashing-Gesetz. Bisher gibt es da praktisch keine Regulierungen, und Unternehmen können so viel täuschen, wie sie wollen. Die großen Anbieter dieser Labels, Myclimate, South Pole und Climate Partner, haben alle das Wording verändert und ihr Klimaneutralität-Label abgeschafft.

Ein guter erster Schritt, trotzdem ist das natürlich zunächst nur eine kosmetische Änderung und an dem Geschäftsmodell hat sich vermutlich noch nicht viel geändert. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass diese klassische Kompensation zumindest in Europa am Ende ist.

In den USA sieht das alles wieder ein bisschen anders aus. Da sind die Probleme des Systems noch kaum ein Thema.

Bild: New Climate

Carsten Warnecke

ist Mit­gründer des New Climate Institute in Köln und hat langjährige Expertise zu inter­nationalen CO2-Märkten. Schwerpunkte des studierten Umwelt­ingenieurs sind Entwicklung und Bewertung klima­politischer Maßnahmen und Strategien, speziell inter­nationaler CO2-Märkte. Bei New Climate arbeitet er an der Entwicklung eines alternativen Ansatzes zur CO2-Kompensation mit, des "Climate Responsibility Approach".

Auch in der viel beachteten Recherche von Guardian und Zeit geht es "nur" um einzelne Projekte oder Projekttypen, schwarze Schafe sozusagen, und nicht um Kritik am System der Kompensation an sich.

Da ging es vor allem um Forstprojekte. Die haben über die generellen Kritikpunkte am Kompensationsmarkt hinaus noch ihre ganz eigenen Probleme. Da ist es besonders leicht nachweisbar, dass das zum größten Teil gar kein Klimaschutz ist.

Dieser Teil des Kompensationsmarkts ist auf jeden Fall hier in Europa tot. Ob der gesamte Markt tot ist, weiß ich nicht, aber ich würde es mir wünschen, damit wir endlich in eine ehrliche Diskussion über die Klimaauswirkungen von Produkten und Dienstleistungen einsteigen können.

Ist eine Unterscheidung zwischen Projekttypen nicht sinnvoll? Während Waldschutzprojekte selbst in der Theorie nur CO2 vermeiden, können zum Beispiel Aufforstungsprojekte tatsächlich CO2 speichern.

Die grundsätzlichen Probleme betreffen den gesamten freiwilligen Kompensationsmarkt und damit auch alle Projekte, die dort gehandelt werden.

Ein besonderes Problem der biologischen Senken – also Aufforstung, Renaturierung von Mooren oder Graslandschaften – ist immer die Permanenz, also die Dauerhaftigkeit des CO2-Speichers.

Was ist damit gemeint?

Wir fördern Erdgas, Erdöl oder Kohle aus einem Kohlenstoffspeicher, der seit Millionen von Jahren existiert und noch weitere Millionen von Jahren existieren würde. Den Kohlenstoff verbrennen wir und das CO2 gelangt in die Atmosphäre.

Und um das auszugleichen, pflanzen wir dann einen Baum. Dass der Kohlenstoff in diesem Baum nicht genauso sicher ist, wie in einem Millionen Jahre alten Speicher tief unter der Erde, ist ziemlich offensichtlich.

Das ist miteinander nicht zu vergleichen. Der Klimawandel selbst wird dazu führen, dass große Teile dieser Projekte wieder abbrennen oder durch Dürren und Schädlingsbefall verloren gehen. Und was dann?

Werden dann die Emissionen rückwirkend auf die Klimabilanzen aufgeschlagen? Dafür gibt es heute noch überhaupt keine belastbare Lösung. Produkte wurden aber trotzdem jahrelang als klimaneutral vermarktet.

Da viele Klimaschutzprojekte nur über 20 oder 30 Jahre laufen, wird im Zweifel danach auch gar nicht kontrolliert, was mit dem Wald oder Moor passiert.

Wer soll das in 30 Jahren auch kontrollieren? Die Initiativen, die die Zertifikate ausgestellt haben, existieren in 30 Jahren vermutlich gar nicht mehr. Der freiwillige Zertifikatemarkt ist komplett unreguliert.

In Wahrheit müsste dieser Markt der unregulierte Markt heißen. "Freiwillig" ist eine beschönigende Bezeichnung, die der Markt sich selbst gegeben hat.

Dieser Markt hat eigene Standards entwickelt, deren Einhaltung er selbst kontrolliert. Die meisten Akteure dort wollen maximal viel Geld verdienen, warum sollten sie sich dann selbst allzu sehr beschränken? Noch dazu ist kein Anbieter verpflichtet, sich an allgemeine Standards zu halten, solange er einen Käufer für seine Zertifikate findet. 

Ich könnte mir heute ein Zertifikat selbst basteln und an irgendwen verkaufen, weil ich mit dem Fahrrad statt mit dem Auto in die Arbeit gefahren bin. So etwas mache ich natürlich nicht, aber andere machen genau das tagtäglich. Niemand mahnt die ab. Es ist unfassbar, was da stattfindet.

Kommen wir zu den generellen Problemen des Marktes. Warum wünschen Sie sich nicht bessere Projekte, sondern den "Tod" der CO2-Kompensation?

Da muss ich ein bisschen ausholen. Der Kompensationsgedanke – es ist egal, wo CO2 auf der Welt eingespart wird, denn die Klimaauswirkungen des CO2 sind überall die gleichen – stammt aus dem Kyoto-Protokoll, dem Vorgängervertrag des Paris-Abkommens. Er ist also über 20 Jahre alt. Unter dem Konstrukt des Kyoto-Protokolls hat das auch Sinn gemacht.

Was hat sich seitdem verändert?

Damals hatten nur die Industrieländer Klimaziele. Das heißt, es konnte in vielen Fällen relativ einfach dargestellt werden, dass ein Klimaschutzprojekt, zum Beispiel in einem Entwicklungsland, sonst nicht umgesetzt worden wäre. Damit war das Kriterium der Zusätzlichkeit erfüllt.

 

Die Idee des Zertifikatehandels im Kyoto-Protokoll war, den Industrienationen mehr Flexibilität beim Erreichen ihrer Klimaziele einzuräumen. Einen Teil der Emissionen konnten sie zu Hause reduzieren und einen Teil über Klimaschutzprojekte in anderen Ländern.

Das Kyoto-Protokoll ist allerdings längst Geschichte, die Klimakrise ist schlimmer, als damals irgendwer für möglich gehalten hätte, und die Emissionen steigen nach wie vor Jahr für Jahr. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand.

Unter dem Paris-Abkommen funktioniert die Kompensations-Logik nicht mehr, und zwar aus sehr vielen Gründen – und hier wird es kompliziert. Aber davon, dass es so kompliziert und von außen nur schwer einsichtig ist, profitiert der freiwillige Kompensationsmarkt. Man kann ja schlecht etwas kritisieren, was man nicht versteht.

Beim Paris-Abkommen haben fast alle Länder eigene Klimaziele, deshalb ist das Kriterium der Zusätzlichkeit von Klimaschutzprojekten zumindest nicht mehr generell gegeben. Dennoch behaupten alle Klimaberatungsfirmen, dass die Projekte, die sie anbieten, zusätzlich seien. Wie funktioniert das?

Dazu muss man wissen, dass der Markt mit einem großen Überangebot von Alt-Zertifikaten aus der Kyoto-Zeit belastet ist. Heute werden fast ausschließlich Zertifikate aus Projekten gehandelt und verwendet, die nach Kyoto-Regeln validiert worden sind.

Die Zusätzlichkeit war also nach Regeln aus der Vergangenheit eventuell mal gegeben, bei der Verwendung in der Paris-Zeit ist dies aber höchst fragwürdig.

Der freiwillige Kompensationsmarkt führt außerdem dazu, dass Geld von ausländischen Unternehmen in die Projektländer, meistens Entwicklungsländer, fließt. Dann hat das Projektland ein Interesse daran, dass diese Geldströme weiter fließen. Die Frage, die sich das Projektland deshalb stellt, ist: Was muss ich tun, damit das so bleibt?

Die Antwort ist: Das Land muss ein möglichst schwaches Klimaziel bei den Vereinten Nationen einreichen. Damit entsteht der Eindruck, dass es die Projekte nicht aus eigener Kraft hätte durchführen können. So wird eine vermeintliche Zusätzlichkeit hergestellt.

Es lässt sich aber auch schwer nachweisen, dass ein Land ohne den Kompensationsmarkt ein ehrgeizigeres Klimaziel eingereicht hätte.

Im Paris-Abkommen steht schwarz auf weiß, dass alle Länder ihr Möglichstes tun müssen, um die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad, zu begrenzen und ihre Ziele immer wieder entsprechend anpassen müssen. Natürlich gibt es eine andere Erwartungshaltung an ein Land wie Deutschland als an ein Entwicklungsland, aber die Erwartung an ein Entwicklungsland ist nicht null.

Der Kompensationsmarkt gibt den Projektländern nun aber einen Anreiz, eben diese Verpflichtung aus dem Paris-Abkommen zu unterlaufen.

Nur zur Klarstellung, ich rede hier nicht über die Qualität von einzelnen Projekten. Es gibt Projekte, wie eben Waldschutzprojekte, die so unterirdisch schlecht sind, dass sie auch unter dem Kyoto-Protokoll immer nur auf dem Papier zu Emissionsminderungen geführt hätten.

Aber, und das ist wichtig: Selbst ein perfektes Projekt im freiwilligen Kompensationsmarkt hat unter dem Paris-Abkommen kaum eine positive Klimawirkung – im Zweifel bremst es den Klimaschutz an anderer Stelle aus.

Sind einige der Projektländer nicht auch auf Gelder von ausländischen Unternehmen angewiesen, um die Projekte zu stemmen?

Auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt gibt es zurzeit fast ausschließlich Projekte, die die Länder selbst umsetzen könnten und müssten. Diese Projekte, etwa Waldschutz und Wiederaufforstung, sind weder technologisch anspruchsvoll noch besonders teuer.

Es würde oft genügen, ein paar Gesetze zu ändern. Wind und Sonne sind heute in den meisten Ländern der Erde die günstigsten Quellen der Stromerzeugung. Es fehlt oft am Willen oder den politischen Instrumenten zur Umsetzung.

Hierfür bietet der Markt keine Lösungen. Es gibt aber andere Formen der internationalen Unterstützung, ohne dass Zertifikate gehandelt werden müssen und ohne dass in Industrieländern die Minderungsaktivitäten verzögert werden.

Entwicklungsländer brauchen keine Unterstützung durch die Märkte bei billigen und einfachen Klimaschutzprojekten, sondern bei technologisch anspruchsvollen oder besonderes teuren.

Lesen Sie hier Teil 2 und Schluss des Interviews: "Unternehmen müssen ihre Emissionen ernsthaft bepreisen und Geldflüsse transparent machen"