Etwa hundert Menschen sitzen in einem Saal verteilt an Tischen, aber alle in eine Richtung gewandt, ungefähr die Hälfte hebt den Arm zur Abstimmung.
Schon 2019 erarbeitete der "Bürgerrat Demokratie" Vorschläge zur Ergänzung des Parlamentarismus – etwa durch Bürger:innenräte. (Foto: Robert Boden/​Wikimedia Commons)

In dieser Woche hat der Bürgerrat Klima ein umfangreiches Paket mit Vorschlägen zur Erfüllung des Pariser Klimaabkommens in Deutschland vorgestellt. Das Besondere: Hier waren keine interessierten Bürger:innen zusammengekommen, die sich für ein Beteiligungsprojekt gemeldet hatten, sondern eine repräsentative Zufallsauswahl von 160 Menschen aus der Bevölkerung.

Die so entstandene Mini-Gesellschaft entwickelte in zwölf Sitzungen, flankiert durch beratende Expert:innen und eine professionelle Moderation, Antworten auf die Frage: "Wie kann Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen?"

Der Bürgerrat Klima zeigt erneut, warum dieses Instrument international von großem Interesse ist, auch in der Politikwissenschaft. Zum einen entsteht hier eine besondere Dynamik, die uns im politischen Alltag oft fehlt: Bürger:innen fühlen sich ernst genommen und ermächtigt, sind hoch motiviert sich zu informieren, hören einander zu, diskutieren und verständigen sich konstruktiv auf Lösungen. Zum anderen bringen Bürger:innenräte oft progressive, gemeinwohlorientierte Lösungen hervor.

Der Bürgerrat Klima verabschiedete 76 richtungsweisende Empfehlungen für die Bereiche Energie, Mobilität, Gebäude und Wärme, Ernährung sowie zu Instrumenten der Transformation. Zu dem Katalog gehören umfassende Leitprinzipien wie das 1,5-Grad-Ziel als "oberste Priorität", auf das alle neuen Gesetze hin überprüft werden sollten.

Aber auch viele konkrete Forderungen wie etwa die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, ein um acht Jahre vorgezogener Kohleausstieg oder ein Klimabudget pro Kopf sind enthalten.

Ob dieses Paket der große Entwurf für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels ist, bleibt offen. Deutlich wird, dass die Bürger:innen die Klimakrise eher technisch bearbeitet haben und die systemischen Ursachen nur zaghaft benennen. Der Begriff Wachstum taucht im gesamten Dokument beispielsweise überhaupt nicht auf.

Porträt Okka Lou Mathis
Foto: DIE

Okka Lou Mathis

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) im Bereich Umweltgovernance. Sie untersucht in ihrer Promotion an der Universität Lüneburg die Wirksamkeit politischer Nachhaltigkeitsinstitutionen.

Trotzdem könnten diese Empfehlungen nun die klimapolitischen Debatten vor den Wahlen im September ordentlich anheizen und der nächsten Regierung entscheidende Hinweise liefern, was zu tun ist – und was die Bevölkerung mitträgt.

Die Empfehlungen des Bürgerrats Klima und ähnliche Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass Bürger:innenräte mehr als andere Gremien die sozial-ökologische Nachhaltigkeit und das Gemeinwohl im Blick haben. Dies wird dadurch begünstigt, dass die Ratsmitglieder weder auf die nächsten Wahlen schielen müssen noch Lobbyinteressen im Nacken haben.

Da sie zudem deutlich diverser und inklusiver zusammengesetzt sind als Parlamente und Regierungen, können sie Nachhaltigkeit zu dem viel zitierten "Gemeinschaftswerk" machen, das wir als Legitimationsgrundlage für die "große Transformation" benötigen.

Ohne politischen Auftrag

Trotz dieser Hoffnungen zeigt gerade auch der zivilgesellschaftlich organisierte Bürgerrat Klima, welche Fragen das Instrument aufwerfen kann:

  • Was bedeuten die Empfehlungen für die Politik? Da der Bürgerrat Klima nicht politisch beauftragt war, hält die Politiker:innen in diesem Fall nichts davon ab, sich nach Belieben einzelne Empfehlungen herauszupicken oder auch das ganze Paket zu ignorieren.
  • Wie sind die Beteiligten beim Bürgerrat Klima legitimiert? Die durchführenden Institute sind politisch neutral, aber die maßgeblichen zivilgesellschaftlichen Akteure wie der Trägerverein Bürgerbegehren Klimaschutz sind es nicht. Sie haben eine klare politische Agenda und würden sich wohl an keinem Gremium beteiligen, das diese Agenda nicht voranbringt.
  • Repräsentiert der Bürgerrat Klima die Gesellschaft? Bürger:innenräte sind eine Stichprobe, welche die Gesamtgesellschaft abbilden soll. Sie sind lediglich ihrem eigenen Gewissen und ihren Überzeugungen verpflichtet und können weder abgewählt noch zur Rechenschaft gezogen werden.

Bürger:innenräte sind also keine für sich allein stehenden Mini-Demokratien. Vielmehr müssen sie in ein System legitimer Institutionen eingebettet werden.

Impuls zur richtigen Zeit

Wie könnte es mit Bürger:innenräten in Deutschland nun weitergehen? Ein möglicher nächster Schritt wäre ein politisch angebundener Bürger:innenrat, der vom Bundestag oder von der Bundesregierung einberufen wird.

Die Ergebnisse eines solchen Gremiums könnten die politischen Entscheidungsträger nicht einfach ignorieren. Zumindest müssen sie öffentlich rechtfertigen, wie sie mit den Forderungen des eigens eingesetzten Gremiums umgehen. Die Forderungen nicht zu erfüllen hat dann einen gewissen politischen Preis.

Ein weitergehender Schritt wäre eine Institutionalisierung von Bürger:innenräten mit eigener politischer Entscheidungskompetenz, neben den klassischen Institutionen der repräsentativen Demokratie. So könnten Bürger:innenräte etwa als eine weitere legislative Kammer oder als "Agendasetter" fungieren.

Porträt Florian Wieczorek
Foto: privat

Florian Wieczorek

hat Philo­sophie und Politik­wissen­schaft studiert und promoviert zurzeit an der Universität Hamburg zum Thema Recht­fertigung sozialer Ordnung. Er beschäftigt sich mit der Legitimation und Innovation demo­kratischer Ordnung.

Die Vorteile liegen auf der Hand. Bleibt die Beratung durch die Bürger:innen dem eigentlichen Entscheidungsprozess nur vorgeschaltet, drohen ihre Vorschläge im etablierten politischen System unterzugehen. Bekommen Bürger:innenräte hingegen eigene Entscheidungskompetenz, könnten sie Kurzsichtigkeit und Lobbyeinfluss in den bestehenden Institutionen ausgleichen.

Die Kombination aus Bürger:innenräten und anschließender Volksabstimmung wie in Irland kann die Empfehlungen nachträglich legitimieren und ihre politische Verbindlichkeit garantieren. Dieses Instrument haben wir in Deutschland auf Bundesebene jedoch nicht.

So oder so würde die Institutionalisierung von Bürger:innenräten hierzulande einer politischen Revolution gleichkommen. Solche Veränderungen brauchen in der Regel Zeit. Das ist tragisch, denn diese Zeit fehlt uns gerade in der Klimapolitik.

Der Bürgerrat Klima ist ein wichtiger Impuls zur richtigen Zeit für die Wiederbelebung einer antiken und gleichzeitig äußerst modernen Idee: Diskussionen zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger unter dafür idealen Bedingungen. Dieses Instrument kann zumindest beteiligte Bürger:innen dazu bringen, eine nachhaltigere Politik nicht nur mitzugestalten, sondern sie auch mitzutragen und einzufordern.

Zunächst bleibt die Hoffnung, dass Politiker:innen die Zeichen der Zeit erkennen und die Vorschläge der Bürger:innen zur Klimapolitik ernst nehmen.

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