Am 20. Oktober letzten Jahres begann ein kleines Schweizer Energieunternehmen einen Rechtsstreit, der weltweite Auswirkungen haben könnte. Die Azienda Elettrica Ticinese (AET) reichte Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland vor einem privaten Schiedsgericht ein, um den deutschen Kohleausstieg bis 2038 anzufechten.
Das Unternehmen fordert eine "Entschädigung" für die Ende 2018 erfolgte Schließung des Trianel-Kohlekraftwerks im westfälischen Lünen, an dem AET beteiligt ist.
Obwohl AET nur einen kleinen Anteil an dem Kraftwerk hält und die mögliche Entschädigungssumme daher nicht sehr hoch ausfallen dürfte, könnte das Verfahren einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Anteilseigner weltweit könnten Entschädigungen für die Schließung ihrer Kohlekraftwerke fordern und so die dringend nötige Abkehr von fossilen Brennstoffen behindern.
Bedrohung für die Demokratie
AET nutzt für seine Klage den wenig bekannten Mechanismus der Investor-Staat-Streitbeilegung, englisch ISDS. Dieser wurde speziell entwickelt, um Investoren zu ermöglichen, nationale Gerichte zu umgehen.
Der Energiecharta-Vertrag – ein internationales Investitionsschutzabkommen mit fast 50 Mitgliedsstaaten – ist einer der internationalen Verträge, der Investoren den Zugang zu privaten Schiedsgerichten ermöglicht.
Daneben gibt es etwa 2.500 weitere Investitionsschutzabkommen, die ebenfalls Klagerechte enthalten. Allein Deutschland ist Teil von 114 dieser Abkommen, der überwiegende Teil davon mit Ländern des globalen Südens.
Die bei ISDS zum Einsatz kommenden Schiedsgerichte bestehen aus jeweils drei "Schiedsrichtern" – oft private Anwälte, die teilweise vom klagenden Unternehmen selbst ausgewählt werden. Diese entscheiden losgelöst von nationalen Gesetzen oder Verfassungen über die Investorenklagen.
Gegenüber nationalen Gerichten bevorzugen Unternehmen häufig die Schiedsgerichte, da sie dort bessere Chancen haben, Fälle zu gewinnen, höhere Entschädigungen zugesprochen bekommen und der kritischen Öffentlichkeit entgehen können. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bezeichnet ISDS treffend als "rechtlichen Terrorismus" und prangert die nachteiligen Auswirkungen auf die Demokratie und die Regierungsmöglichkeiten von Staaten an.
Alarmierendes Ausmaß an Fällen
ISDS-Fälle sind notorisch intransparent – einige Fälle werden völlig geheim gehalten oder erst Jahre nach ihrem Abschluss bekannt. Um mehr Licht in das Dunkel der ISDS-Welt zu bringen, haben die Nichtregierungsorganisationen Powershift, Transnational Institute und Trade Justice Movement gemeinsam den "Global ISDS Tracker" erstellt – eine neue Datenbank, die alle öffentlich bekannten ISDS-Fälle und ihre Hintergründe zusammenfasst.
Lucia Barcena, Fabian Flues, George Holt
Lucía Bárcena ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Thinktank Transnational Institute. Fabian Flues arbeitet bei der Berliner Nichtregierungsorganisation Powershift zu Handels- und Investitionspolitik. George Holt ist leitende Analystin beim Trade Justice Movement, einem britischen NGO-Bündnis. Gemeinsam waren sie an der Erstellung des Global ISDS Tracker beteiligt.
Die Datenbank zeigt erstmals das ganze Ausmaß des Investorengerichtswesens. Die Ergebnisse sind erschütternd. Seit den ersten ISDS-Klagen in den frühen 1990er Jahren konnten Investoren mehr als 110 Milliarden US-Dollar an staatlichen Entschädigungen einklagen.
Insgesamt haben Investoren diverse Staaten auf über 850 Milliarden US-Dollar verklagt. Das ist mehr als der Jahreshaushalt von Japan, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt.
Auf fast 40 Prozent dieser Summe, etwa 325 Milliarden US-Dollar, klagte die fossile Brennstoffindustrie. Der fossile Wirtschaftssektor nutzt, wie die Zahlen zeigen, ISDS am aktivsten und behindert so Maßnahmen zum Klimaschutz.
Verheerend für den globalen Süden und den Klimaschutz
Bei den Investorenklagen zeigt sich erneut das Nord-Süd-Gefälle der Weltwirtschaft. Die Datenbank weist deutlich aus, dass Investoren aus dem globalen Norden, vor allem aus Europa, ISDS besonders intensiv nutzen, während Länder in Lateinamerika und anderen Regionen des globalen Südens am stärksten von Klagen betroffen sind.
Investoren aus den USA, Großbritannien, den EU-Ländern und Kanada sind besonders klagefreudig. Auf der anderen Seite sind Argentinien, Venezuela, Mexiko und Ägypten die am häufigsten verklagten Länder.
Diese Aufteilung zeigt die neokoloniale Logik von ISDS-Mechanismen und führt globale Ungerechtigkeiten fort. Die Investoren-Klagen haben das Potenzial, ganze Länder in den Bankrott zu treiben. Ein aktuelles Beispiel ist die Klage eines US-Investors gegen Honduras, die, wenn sie vollständig erfolgreich gewesen wäre, 75 Prozent des öffentlichen Haushalts des Landes in Anspruch genommen hätte.
Insgesamt listet die neue Datenbank 129 Fälle auf, in denen Investoren jeweils mehr als eine Milliarde US-Dollar forderten. Die enormen Summen, die dabei auf dem Spiel stehen, können Regierungen bedrohen und einschüchtern, sodass geplante Gesetze abgeschwächt oder zurückgezogen werden, nur um eine potenziell katastrophale ISDS-Klage zu vermeiden.
Besonders schädlich sind die Auswirkungen von ISDS-Verfahren auf die Energiewende. Um die weltweit vereinbarten Klimaziele zu erreichen, müssen Regierungen den Ausstieg aus Kohle, Erdöl und Erdgas beschleunigen, obwohl diese Industrien oft hochprofitabel sind.
Dies bedeutet die Entwertung von Hunderten Milliarden oder sogar von Billionen an Vermögenswerten wie Kraftwerken, Pipelines oder Förderlizenzen. Häufig sind dafür politische Maßnahmen wie Gesetze, Regulierungen oder auch Gerichtsurteile notwendig.
ISDS wurde aber entwickelt, um genau das zu verhindern und die Eigentümer von Vermögenswerten vor der Entwertung ihrer Anlagen durch Regierungen und Gerichte zu schützen. Anwaltskanzleien, die mit Klagen gegen Staaten viel Geld verdienen, beraten fossile Konzerne bereits dabei, wie sie ihre Investitionen so umstrukturieren können, dass sie ISDS optimal nutzen können.
Die Gegenwehr hat begonnen
Trotz dieser dramatischen Lage gibt es Hoffnungsschimmer. Immer mehr Regierungen erkennen die Gefahren, die ISDS-Klauseln für ihre Fähigkeit darstellen, Unternehmen zu regulieren und den Klimawandel wirksam zu bekämpfen.
Länder im globalen Süden wie Indonesien, Indien, Südafrika und Bolivien haben Investitionsschutzverträge gekündigt, die es Unternehmen ermöglichen, Staaten zu verklagen. In Ecuador ist dieser Mechanismus in der Verfassung verboten, und ein dortiges Referendum zur Aufhebung des Verbots wurde vor einigen Monaten mit großer Mehrheit abgelehnt.
Fast ein Dutzend europäischer Regierungen und die EU selbst treten aus dem Energiecharta-Vertrag aus, der zu mehr als 160 ISDS-Fällen geführt hat. Und der US-Handelsbeauftragte erklärte kürzlich, dass die USA alle ihre internationalen Verträge mit ISDS überprüfen werden.
Allerdings bestehen immer noch mehr als 2.000 Verträge mit ISDS-Klauseln. Angesichts der sich beschleunigenden Klimakrise haben wir keine Zeit zu verlieren: Staaten müssen aus diesen gefährlichen Verträgen aussteigen, bevor gewissenlose Investoren uns und unsere Zukunft in den Ruin treiben.