Die Erneuerbare-Energie-Revolution schreitet mit bemerkenswerter Geschwindigkeit voran. Das Tempo hat viele führende Energiekommentatoren überrascht, die diese Entwicklung immer wieder unterschätzt haben.

Sie leiden unter dem, was Statistiker als systematische Verzerrung bezeichnen – ein Fehler, der immer in eine Richtung tendiert. Rauschen oder zufällige Fehler sind für Prognosen typisch und normal, aber systematische Fehler bedürfen einer tiefergehenden Erklärung.

Warum also unterschätzen so viele intelligente Menschen das Tempo und die Dynamik der Erneuerbaren-Revolution? Wir haben acht "Todsünden" bei der Analyse der Energiewende identifiziert. Ob absichtlich oder unbewusst, diese acht allgemeinen Perspektiv-Irrtümer behindern das Verständnis, verschwenden Zeit und Kapital und leisten unproduktivem Klimapessimismus Vorschub.

1. Lineares Denken

Der erste häufige Fehler besteht darin, zu glauben, dass der technologische Wandel linear verläuft.

In der Technologiegeschichte gibt es aber keine geraden Linien, sondern eine Fülle von S‑förmigen Wachstumskurven – vom Wachstum der Kanäle und Eisenbahnen bis hin zu Internet und Mobiltelefonen. Diese S‑Kurven werden durch die sich selbst verstärkende Dynamik von "Feedbackschleifen" angetrieben: Veränderung erzeugt Veränderung.

Wenn Technologien wachsen, profitieren sie von Skaleneffekten. Dazu gehören sinkende Kosten, zunehmende Kapazitäten, steigendes Verbraucherbewusstsein, wachsende Lobbymacht und ergänzende Technologien, die zu weiterem Wachstum führen.

Dies ist die Ursache des exponentiellen Wachstums. Die zentralen neuen Energietechnologien Solar- und Windkraft, Batterien, Wärmepumpen und grüner Wasserstoff passen in die S‑förmigen Wachstumsmuster der Vergangenheit. Allzu oft wird aber eine lineare Veränderung angenommen, obwohl das eine konträre Sichtweise ist, die davon ausgeht, dass es diesmal anders sei.

2. Orientierung am Bestand

Der Fehler besteht darin, sich auf den Bestand zu konzentrieren, also auf die installierte Basis, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat.

Bestände sind allerdings ein nachlaufender Indikator. Bestände folgen Stoff- und Warenflüssen, die Autoflotte folgt dem Autoverkauf.

Solche Flüsse sind der wichtigste Indikator. In den frühen Phasen eines Übergangs zeigen Investitions- und Warenströme ein ganz anderes Bild als der Bestand.

So wird häufig darauf hingewiesen, dass fossile Brennstoffe immer noch über 80 Prozent des Verbrauchs an Primärenergie ausmachen und sich dieser Anteil seit Jahrzehnten nicht nennenswert verändert hat. Seltener wird erwähnt, dass erneuerbare Energien einen zunehmenden Anteil am Ausbau der Energiesystems haben.

Wenn der Fokus vom Bestand auf den Prozess verlagert wird, erkennt man die radikale Veränderung.

Am Ende dieses Jahrzehnts werden alle wichtigen Technologien für erneuerbare Energien den Umsatz in ihren jeweiligen Bereichen dominieren. Solar- und Windenergie machen bereits über 80 Prozent der Kapazitätserweiterungen im Strombereich aus. 2030 werden Elektrofahrzeuge über zwei Drittel des Autoabsatzes stellen.

Sobald erneuerbare Technologien den Absatz dominieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie den Bestand dominieren.

3. Verpasste Wendepunkte

Der Fehler besteht darin, den Zeitpunkt und die Auswirkungen der Spitzennachfrage im alten System zu unterschätzen.

Viele argumentieren etwa, dass die Auswirkungen der Energiewende auf den Ölsektor gering sein werden, da die Ölnachfrage auch im Jahr 2030 noch hoch sein wird. Letzteres stimmt zwar, aber das Ölfördermaximum wird dann eindeutig hinter uns liegen, und nach dem Maximum kommen die Verwerfungen.

In kapitalintensiven Branchen wie den fossilen Brennstoffen können geringfügige Nachfragerückgänge zu großen Preis- und Gewinnänderungen führen. Die etablierten Unternehmen streben nach Wachstum, und wenn es kein Wachstum gibt, sind sie mit Überkapazitäten, niedrigen Preisen und "gestrandeten" Vermögenswerten konfrontiert. Solche "Stranded Assets" sind unvermeidlich, wenn lineare Stilllegungsraten auf einen exponentiellen Nachfrageeinbruch treffen.

Wenn die Kapitalmärkte glauben, dass eine Branche vor dem endgültigen Niedergang steht, warten sie nicht, bis das letzte Fass Öl verkauft ist, bevor sie ihre Investitionen in die alte Branche aufgeben und in den Nachfolger investieren. Diese Kapitalumverteilung beschleunigt den Wandel noch weiter.

Das ist nur eine von mehreren Teufelsspiralen des Niedergangs, die auf die Nachfragespitze folgen. Andere sind steigende Stückkosten, schwindendes politisches Kapital, abnehmende öffentliche Unterstützung und ein austrocknender Fachkräftepool.

Wie Seneca vor 2.000 Jahren bemerkte: "Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft." Prosaischer ausgedrückt: Aktien nehmen die Treppe nach oben, aber den Fahrstuhl nach unten.

4. Angst vor schwierigen Sektoren

Der Fehler besteht darin zu glauben, dass die am schwierigsten zu verändernden Sektoren und Länder die Welle des Wandels aufhalten.

Die Einsatzobergrenze der einfacher zu dekarbonisierenden Sektoren liegt noch weit vor uns. Die Sektoren mit dem größten Bedarf an fossilen Brennstoffen sind am anfälligsten. Strom, Straßenverkehr und Heizwärme machen fast 70 Prozent des Bedarfs an fossilen Brennstoffen aus, die hier bereits durch erfolgreiche und schnell wachsende Erneuerbaren-Technologien bedroht sind.

Bild: RMI

Sam Butler-Sloss

arbeitet am Rocky Mountain Institute (RMI) in den USA zu Strategie­fragen der globalen Energie­transformation. Zuvor untersuchte er in der Londoner Denk­fabrik Carbon Tracker die finanziellen Auswirkungen der Energie­wende. Als Student der Wirtschafts­wissen­schaften in Edinburgh hat er die Initiative "Economists for Future" mitgegründet.

Darüber hinaus weiten sich die Grenzen des Möglichen aus, da Wissenschaftler und Unternehmer an der Entwicklung neuer Lösungen arbeiten. Wenn die einfachen Sektoren geschafft sind, werden die schwierigen Sektoren einfacher. Wenn die Kosten für neue Technologien sinken und ihre Leistung steigt, erobern sie einen Markt nach dem anderen.

Der technologische Wandel erfolgt schrittweise: von einfachen zu schwierigen Bereichen, von einfach zu komplex, von leicht zu schwer, von Vorreitern zu Nachzüglern. Batterien sind nicht von Taschenrechnern auf Lastwagen "gesprungen", sondern von Taschenlampen über Elektronikgeräte zu Autos und dann zu Lastwagen.

Die Grundannahme sollte daher sein, dass sich die Grenzen des Möglichen ständig erweitern, auch wenn nicht klar erkennbar ist, welche der vielen neuen Technologieoptionen die bedeutendste sein wird.

Konkret sind es drei Obergrenzen, die immer weiter verschoben werden. Sie betreffen die Solar- und Windenergie, die Elektrifizierung und die Rentabilität der Dekarbonisierung.

Während der Energiesektor von fossilen Quellen befreit wird, beginnt er gerade erst mit der Entdeckung des Periodensystems, wie es Harry Benham formuliert. Mit den neu entdeckten Alternativen, zum Beispiel bei Batterien von Lithium über Natrium zu Eisen zu wechseln, dehnt sich der Möglichkeitsraum schneller aus, als wir ihn beschreiben können.

Wir lernen hier "Orgels Regel" kennen, wonach die Evolution klüger ist als wir. Das heißt: Die Kreativität von unten, mit der Tausende Pioniere kontinuierlich den neuen Spielraum ausloten, übertrifft die Vorstellungskraft derjenigen, die in Konferenzräumen sitzen und Tabellen ausfüllen.

5. Statische Welt

Der Fehler besteht darin anzunehmen, Technologien, Regeln, Geschäftsmodelle und gesellschaftliche Wahrnehmungen seien statisch.

Während einer Technologierevolution sollten wir davon ausgehen, dass die meisten relevanten Faktoren dynamisch und nicht statisch sind. Es sich handelt sich um Variablen, nicht um Konstanten, wie Jamie Arbib dazu anmerkt.

Zu den häufigen dynamischen Variablen gehören die Kosten für erneuerbare Energien, die mit zunehmendem Einsatz sinken – wodurch wiederum der Einsatz zunimmt. Auch politische Maßnahmen gehören dazu, die verschärft werden, wenn die Klimakrise sich zuspitzt. Viele dieser Variablen beeinflussen sich außerdem gegenseitig.

Bild: Carbon Tracker

Kingsmill Bond

leitet das Strategie­team im RMI. Schwer­punkt seiner Energie­wende-Forschung sind die Finanz­markt­teilnehmer. Er studierte Geschichte und Finanz­wesen und arbeitete 25 Jahre als Aktien­analyst und Strategie­berater, darunter für Investoren wie Blackrock und Fidelity sowie für die Deutsche Bank, die Citibank und die Sberbank in London, Hongkong und Moskau. Etwa seit 2016 befasst er sich mit der Energie­wende als größter Trieb­kraft für Finanz­märkte und Geopolitik.

Bis 2030 dürften sich die Kosten für Solarenergie – die günstigste Energiequelle aller Zeiten – halbieren, was das Overton-Fenster des Möglichen weiter verschiebt, energieintensive Industrien dazu anregt, der Sonne zu folgen, und die Vorteile aus der Elektrifizierung weiter erhöht. Im Jahr 2023 ist es schwierig, dies zu durchdenken, geschweige denn es im Detail zu berechnen.

Viele Modelle sind auf die Lösungen von heute fixiert und wollen sie auf die Herausforderungen von morgen anwenden.

Beispielsweise werden die zukünftigen hohen Anteile "schwankender erneuerbarer Energien" vor dem Hintergrund der heutigen Technologien, Geschäftsmodelle und Verbrauchsmuster betrachtet, was zu der falschen Vorstellung führt, dass jedes Solarmodul ständig ein Backup braucht. In Wirklichkeit werden das digitalisierte Stromsystem und die reaktionsfähigen Haushalte von morgen den Strom möglichst dann nutzen, wenn es am günstigsten ist.

Ein anderes Beispiel: Die CCS-Technologie wird als Lösung für die Sektoren angepriesen, die sich heute nur schwer dekarbonisieren lassen, wobei außer Acht gelassen wird, dass es sich um eine kostenintensive Option handelt, die mit besseren Technologien auf den Lernkurven konkurrieren muss.

Das Energiesystem von morgen für die Welt von heute zu entwerfen, hat während einer langen Phase relativen Stillstands im Energiesystem gut funktioniert. Aber in einer Zeit des Umbruchs schneidet diese Methode schlecht ab.

Dazu passt eine Analogie von Buckminster Fuller: Es gibt nichts an einer Raupe, was darauf hindeutet, dass sie einmal zu einem Schmetterling wird. Die Energiezukunft ist keine modifizierte Version der jüngsten Vergangenheit, sondern das Ergebnis einer Transformation zu einem neuen System.

Eine Auswirkung von Transformationen ist, dass sich Raupenexperten als schlechte Ratgeber in der Welt der Schmetterlinge erweisen.

6. Enger Klima-Fokus

Der Fehler besteht darin, nur im Licht des Klima-Scheinwerfers zu suchen und zu glauben, dass der einzige Treiber der Energiewende darin besteht, den Klimawandel zu stoppen.

Das Klima war der Auslöser und bleibt ein konstanter und kraftvoller Antrieb, aber die Kräfte des Wandels sind tiefer und die Beweggründe vielfältiger.

Das Herzstück der Energiewende ist die Entwicklung weg von einem teuren und ineffizienten fossilen System, das auf Rohstoffen basiert und von Knappheit und Unsicherheit geprägt ist, hin zu billigeren, sauberen und schlanken Technologien, deren Kosten kontinuierlich sinken und die überall verfügbar sind.

Wir bewegen uns von schweren, brennbaren Molekülen zu leichten, gehorsamen Elektronen, von der Jagd nach fossilen Brennstoffen zur Nutzung der Sonne. Die Erneuerbaren-Revolution setzt den langen Bogen der Energiegeschichte fort: Effizienz schlägt Verschwendung, Technologie schlägt Rohstoffe und Ökonomie schlägt Ideologie.

7. Unterschätzte Energieeffizienz

Der Fehler besteht darin, der Energieeffizienz als Treiber der Energiewende wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

Energieeffizienz hat bisher zu mehr Emissionsreduktion geführt als die erneuerbaren Energien.

Die Energieintensität hat sich seit 2010 durchschnittlich um 1,7 Prozent pro Jahr verbessert, was Daten der Internationalen Energieagentur IEA zufolge etwa zehnmal so viel Primärenergie einsparte wie der Ausbau von Solar- und Windenergie. 

Trotz der hohen Effizienzsteigerungen dominieren erneuerbare Energien fast immer die Schlagzeilen. Amory Lovins weist darauf hin, dass Solaranlagen gut sichtbar sind, während ungenutzte Energie unsichtbar bleibt, sich fast der Vorstellbarkeit entzieht – und daher wenig Beachtung findet.

Lovins betont seit 40 Jahren, dass Energieeffizienz den Wandel vorantreiben kann. Seitdem ist sie ein ebenso konstanter wie unterschätzter Aspekt der Energiewende.

Waren die Effizienzgewinne der Vergangenheit schon groß, werden sie in Zukunft noch größer sein. Es gibt immer noch viele ungenutzte Möglichkeiten: neue Materialien, integratives Design und weitere Digitalisierung werden die Energiesysteme noch intelligenter, effizienter und einfacher machen.

Durch den Wechsel von der ineffizienten Stromerzeugung mit fossilen Brennstoffen auf Solar- und Windkraft sinkt der Verbrauch an Primärenergie um 60 Prozent. Durch die Umstellung von Erdöl auf Strom im Verkehrswesen spart man rund 75 Prozent der Primärenergie. Ebenso viel bringt der Austausch von Heizkesseln durch Wärmepumpen.

Da diese Technologien auf ihren S-Kurven weiter wachsen, werden sie die Effizienzsteigerungsrate erhöhen. Das Ziel, die Steigerung der Energieeffizienz bis 2030 zu verdoppeln, ist deshalb viel leichter zu erreichen als gemeinhin angenommen.

8. Komplexe Modelle

Der Fehler besteht darin, übermäßige Komplexität zu modellieren.

Bei systemischen Veränderungen ist ein Modell mit großer Komplexität und Detailgenauigkeit ein Fluch und kein Segen. Es hat keinen Sinn, stolz auf ein Modell mit 1,6 Millionen Variablen zu sein, wenn man nicht einmal die Solarstrom-Kosten richtig vorhersagen kann.

Mit Modellen ist es ein bisschen wie mit Gemüsehändlern: Von Weitem wirkt ein breites und exotisches Angebot verlockend. Doch bei näherem Hinsehen erkennt man, dass es umso schwieriger ist, Frische und Qualität zu gewährleisten, je größer das Sortiment ist. Überlagertes, angegammeltes Gemüse ist von geringem Wert – genauso wie eine veraltete Variable in einem Modell.

In Zeiten raschen Wandels führen Modelle, die zwei oder drei Jahre alte Daten verwenden und keine Lernkurven berücksichtigen, zu völlig falschen Ergebnissen. Wer alles modelliert, modelliert nichts gut. Oder mit den Worten von Doyne Farmer, der sein Oxford-Inet-Modell so beschrieb: Es geht darum, die Technologiedynamik empirisch darzustellen und dabei möglichst wenige Variablen zu verwenden.

Genauso wichtig ist es, einen Ausgleich zwischen Denken und Modellieren zu finden. Technologische Revolutionen sind von Natur aus ungenau und enthalten Faktoren, die sich nur schwer oder gar nicht in Zahlen ausdrücken lassen. Das Gleiche gilt für die Risiken des Klimawandels.

Das Denken kann mit dem Unbestimmbaren besser umgehen als mathematische Modelle. Eine Beurteilung von Risiken und Chancen ist hier der herkömmlichen Kosten-Nutzen-Analyse oft überlegen.

 

Neues Denken für einen raschen Wandel

Die Geschwindigkeit und Dynamik der Erneuerbaren-Revolution falsch darzustellen, ist kein Erfolgsrezept. Das Problem ist nicht nur, dass es falsch ist, sondern auch, dass es selbsterfüllend ist. Das führt zu Zeit- und Kapitalverschwendung, verlorener Wettbewerbsfähigkeit und unproduktivem Klimapessimismus.

Technologierevolutionen verlaufen nicht linear. Es kommt auf den Zeitpunkt des Wandels an. Die Veränderung ist wichtiger als der Bestand. Einfache Sektoren kommen vor schwierigen. Marktstörungen kommen früh und nicht spät.

Es handelt sich um Phasen des Wandels, nicht des Gleichgewichts. Phasen des Wandels sind von Natur aus nicht berechenbar. Effizienz ist eine unsichtbare Superkraft. Und die Triebkräfte technologischer Revolutionen sind tiefgreifend und vielfältig.

All das ist wichtig zu verstehen, weil Erwartungen wichtig sind: Wir gestalten die Zukunft, die wir erwarten. Wenn wir die acht Todsünden vermeiden, wird die Revolution der erneuerbaren Energien schneller voranschreiten und weniger Überraschungen bringen.

Die Autoren danken Jamie Arbib, Harry Benham, Amory Lovins, Chris Nelder, Simon Sharpe, Laurens Speelman und Daan Walter für ihre Ideen und Vorschläge. Der Beitrag erschien zuerst auf der Webseite des Rocky Mountain Institute unter dem Titel "The Eight Deadly Sins of Analyzing the Energy Transition".

Übersetzung: Christian Mihatsch